Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit

Einleitung

Hanno Scheerer

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"I think that in no country in the civilised world is less attention paid to philosophy than in the United States", [1] schrieb Alexis de Tocqueville 1840 in seiner brillanten Analyse der amerikanischen Gesellschaft. Amerikaner, so de Tocqueville, seien materialistisch und nur an praktisch anwendbarem Wissen interessiert. Diese pragmatische Gesellschaft habe keinerlei Fortschritte in den höheren Wissenschaften produziert, kaum Literaten oder Künstler hervorgebracht, und zeige kein Interesse für politische Theorie. Zudem würden sich die Menschen in einer demokratischen Gesellschaft wie den USA lieber auf ihre eigene Vernunft verlassen als auf die Meinung einzelner, herausragender Philosophen. [2]

Modern und in den Worten des Historikers Richard Hofstadter ausgedrückt, diagnostiziert de Tocqueville einen großen Antiintellektualismus und damit verbunden einen Mangel an Intellektuellen in den USA zur Mitte des 19. Jahrhunderts. [3] Diese Beobachtung verwundert insofern, als die Entstehungsgeschichte der Vereinigten Staaten untrennbar mit Intellektuellen und Intellektualismus verbunden ist. "In America during the era of the Founding Fathers we have what might be regarded as the most complete fusion of power and intellect", schreibt der Historiker John Patrick Diggins und ergänzt damit Richard Hofstadter, der kurz und knapp formuliert: "The leaders were the intellectuals”. [4] Im genauen Gegensatz zur Situation, wie de Tocqueville sie 1840 wahrnahm, waren Männer wie Thomas Jefferson, John Adams und Benjamin Franklin politische Philosophen – breit interessiert an theoretischen Natur- und Sozialwissenschaften, belesen in Literatur und Poetik, und sie beeinflussten unmittelbar die politische und gesellschaftliche Entwicklung der USA. Wie konnte es passieren, dass Amerika innerhalb eines halben Jahrhunderts seine Intellektuellen verlor? Was charakterisierte die Intellektuellen in Nordamerika zur Revolutionszeit, und was unterschied sie von Intellektuellen in Europa? Gab es einen 'Typus' des amerikanischen Intellektuellen? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei Thomas Jefferson als einer der wichtigsten politischen und philosophischen Akteure seiner Zeit im Zentrum der Betrachtung stehen wird.

Anmerkungen

[1] Alexis de Tocqueville: Democracy in America, Hertfordshire 1998, 179.

[2] Vgl. de Tocqueville: Democracy (wie Anm. 1), 179ff. De Tocqueville bewertet diese Aspekte keineswegs negativ, sondern entweder als Ausdruck der in Amerika herrschenden Demokratie oder des spezifisch amerikanischen Charakters.

[3] Vgl. Richard Hofstadter: Anti-Intellectualism in American Life, New York 1963.

[4] John Patrick Diggins: The Changing Role of the Public Intellectual in American History, in: Arthur M. Melzer / Jerry Weinberger / M. Richard Zinman (Hg.): The Public Intellectual. Between Philosophy and Politics, Lanham / Maryland 2003, 91-108, hier: 93; Hofstadter: Anti-Intellectualism (wie Anm. 3), 145.

Empfohlene Zitierweise
Hanno Scheerer, Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/5), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Einleitung (Datum des letzten Besuchs).