Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit

Zur Rolle der öffentlichen Meinung

Thomas Jefferson und die öffentliche Meinung

Hanno Scheerer

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Betrachtet man die Publikationsgeschichte der "Notes on Virginia", so stellt sich die Frage, wen Jefferson mit seinen Ausführungen eigentlich erreichen wollte. Ähnlich wie "A Summary View" ursprünglich lediglich als Regierungsdokument gedacht war, so waren die "Notes" für Jefferson anfänglich wahrscheinlich in der Tat nicht mehr als etwas zu lang ausgefallene Antworten auf die Anfragen eines französischen Gesandten. Jeffersons Brief an Charles Thomson zeigt jedoch, dass er durchaus das Interesse hatte, mit seinen "Notes" eine breitere Wirkung zu erzielen. Wieso wollte er sie also nicht in Buchform veröffentlichen?

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Jeffersons Zögern gegenüber einer öffentlichen Publikation hängt mit seiner spezifischen Vorstellung von den Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung zusammen. Als erster Präsident, der Anhänger der republikanisch-demokratischen Partei war, steht Jefferson wie kaum ein anderer für die Vorstellung der Souveränität des Volkswillens. "The force of public opinion cannot be resisted when permitted freely to be expressed. The agitation it produces must be submitted to", [1] erklärte er in einem Brief an seinen Freund, den Marquis de Lafayette. Doch wie wurde eben jene öffentliche Meinung gebildet? Eine freie Presse und umfassende Information der Öffentlichkeit waren für Jefferson der Schlüssel: "Were it left to me to decide whether we should have a government without newspapers, or newspapers without a government, I should not hesitate a moment to prefer the latter". [2]

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Intellektuelle Vordenker hatten in Jeffersons Verständnis somit einen schweren Stand. Sie konnten die Öffentlichkeit nur insoweit beeinflussen, als diese auf Grund ihrer Vorbildung und grundsätzlichen Offenheit für eine neue Sicht auf die Dinge auch bereit war. Eine solche Offenheit war schwer zu erreichen, da alle Menschen auf Grund ihrer Sozialisation in bestimmten Denkweisen und in fundamentalen Vorurteilen gefangen waren. In diesem Sinne analysierte Jefferson retrospektiv die politische Situation in den Kolonien vor der Revolution: "Our minds were circumscribed within narrow limits by an habitual belief that it was our duty to be subordinate to the mother country in all matters of government, to direct all our labors in subservience to her interests, and even to observe a bigoted intolerance for all religions but hers." [3] Dieses Denken vollständig abzulegen war ein langwieriger Prozess, der kaum durch radikale Äußerungen von einer intellektuellen Elite beschleunigt werden konnte. [4] Insofern betrachtete er seine niemals als Pamphlet gedachte Veröffentlichung "A Summary View" auch als wenig erfolgreich, da seine Zeitgenossen seine Argumentation als zu gewagt einstuften. [5]

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Noch stärkere Bedenken bezüglich der fehlenden Bereitschaft der Bevölkerung für seine Gedanken hatte Jefferson jedoch mit Hinblick auf seine Ausführungen zur Sklaverei in den "Notes on Virginia". Für Jefferson stellten seine "Notes" eine fundamentale Kritik an der Sklaverei dar, und er hoffte, dass die öffentliche Meinung in Virginia und anderen Staaten auf Dauer zu einer ähnlich kritischen Einschätzungen gelangen würde. Sein damaliger Vertrauter John Adams glaubte in der Tat, dass Jeffersons Werk einen wichtigen Beitrag zur Steuerung des Diskurses in Nordamerika leisten könnte, doch Jefferson selbst war sich mehr als unsicher. [6] Als er ein Exemplar seines ersten Privatdrucks an seinen Freund, den Marquis de Chastellux, sandte, erklärte er: "The strictures on slavery and on the constitution of Virginia […] are the parts which I do not wish to have made public, at least, till I know whether their publication would do most harm or good. It is possible, that in my own country, these strictures might produce an irritation, which would indispose the people towards the two great objects I have in view; that is, the emancipation of their slaves, and the settlement of their constitution on a firmer and more permanent basis […]." [7]

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Doch wenn intellektuelle Vordenker die öffentliche Meinung kaum beeinflussen konnten, ja sogar fürchten mussten, hatten sie dann laut Jefferson überhaupt Potenzial zur langfristigen Veränderung? Als optimistischer Anhänger der Aufklärung glaubte Jefferson an die Macht der Bildung, und so setzte er seine ganzen Hoffnungen auf die Jugend. "[…] the boys of the rising generation are to be the men of the next, and the sole guardians of the principles we deliver over to them", [8] schrieb Jefferson 1810. Dementsprechend galt es, die Jugend von seiner Meinung über die Sklaverei zu überzeugen."It is to them I look, to the rising generation, and not to the one now in power, for these great reformations", [9] gab Jefferson zu verstehen, und so war es ihm dann auch ein besonderes Anliegen, die "Notes" den Studenten des College of William and Mary zugänglich zu machen. Von dieser gelehrten und gelehrigen Jugend versprach Jefferson sich Verständnis und eine differenzierte Auseinandersetzung mit seinen Theorien und Ideen.

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Als Intellektueller hatte Jefferson also eine sehr exklusive Öffentlichkeit im Visier. Er wollte nur solche Personen erreichen, die durch ihre Bildung in der Lage waren, seine Gedanken zu verstehen und vorurteilsfrei zu diskutieren. Nur innerhalb dieser gebildeten Öffentlichkeit konnten sich seine Ideen entfalten: "He who receives an idea from me, receives instruction himself without lessening mine […]. That ideas should freely spread from one to another over the globe, for the moral and mutual instruction of man, and improvement of his condition, seems to have been peculiarly and benevolently designed by nature, when she made them, like fire, expansible over all space […]." [10]

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Innerhalb einer Gelehrtenrepublik könnten intellektuelle Vordenker also sehr wohl Wirkung erzielen – indem sie andere Intellektuelle zum Nachdenken anregen. Diese Vorstellung einer exklusiven Zirkulation der "Notes" in einer Gelehrtenrepublik war allerdings nicht umzusetzen. Einmal gedruckt, wurde das Werk allgemein zugänglich und von einer breiten Öffentlichkeit in den jungen Vereinigten Staaten rezipiert. Diese ungelehrte Öffentlichkeit war, so die Annahme der Aufklärer, rezeptiv für Demagogie und Meinungsmache. Tatsächlich sollte Jeffersons Veröffentlichung bald dazu genutzt werden, die öffentliche Meinung gegen ihn zu drehen.

Die öffentliche Meinung und Thomas Jefferson

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So erfüllten sich Jeffersons Befürchtungen, dass die "Notes" letztlich einen negativen Effekt haben könnten. Dieser Effekt bezog sich in erster Linie auf Jeffersons Reputation als Politiker. Als Jefferson sich 1796 und 1800 als Präsidentschaftskandidat zur Wahl stellte, nutzten seine politischen Gegner seine Buchveröffentlichung, um ihn zu diffamieren und als ungeeigneten Politiker darzustellen. Interessanterweise trat dabei bereits eben jener Antiintellektualismus zutage, den de Tocqueville 1840 in der amerikanischen Gesellschaft diagnostizieren sollte.

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Die Wahlen von 1796 und 1800 waren die ersten in den Vereinigten Staaten, die hart entlang von Parteigrenzen ausgefochten wurden und erste Anzeichen eines modernen Wahlkampfes aufwiesen. Zur Debatte stand nicht nur die Wahl eines neuen Präsidenten, sondern die gesamte zukünftige politische Ausrichtung der Vereinigten Staaten. John Adams, als Vertreter der regierenden 'Federalists', stand für einen starken Nationalstaat, der mit Maßnahmen wie Importzöllen insbesondere die industrielle Entwicklung der USA sichern sollte, während Jefferson als 'Democratic Republican' den Einfluss der Nationalstaats möglichst gering halten wollte und sich selbst als Vertreter der Interessen von Kleinbauern stilisierte. Obwohl die Wahlmänner für die Präsidentschaftswahl in den meisten Staaten noch nicht direkt vom Volk, sondern von den jeweiligen Parlamenten gewählt wurden, kam es in beiden Wahlkämpfen zu einer breiten öffentlichen Debatte, die in Zeitungen und politischen Pamphleten ausgetragen wurde. [11]

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Anhänger der 'Federalists' versuchten dabei insbesondere, Jeffersons Image als Interessensvertreter des Südens und der Kleinbauern zu zerstören. Dabei machten sie sich Jeffersons Reputation als 'Philosoph' und seine wichtigste Veröffentlichung, die "Notes on Virginia" zunutze und fuhren eine doppelte Strategie: Zum einen stellten sie Jeffersons intellektuelle 'Ergüsse' bloß, deckten die Ungereimtheiten seiner Aussagen zur Sklaverei auf, und stilisierten Jefferson als radikalen Demagogen, der mit seinen Worten die öffentliche Ordnung in Gefahr bringe. Andererseits gestanden sie Jefferson seine Rolle als Intellektueller zu, stellten aber die Eignung eines Intellektuellen für die Politik grundsätzlich in Frage.

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Der politische Pamphletist Henry William Desaussure aus South Carolina verfolgte im Jahr 1800 die erste Strategie. Jefferson sei ein "theorist in politics as well as in philosophy and morals. – He is a philosophe in the modern French sense of the word", [12] gab er zu Protokoll. Diese eigentlich schmeichelnde Charakterisierung legt der Pamphletist jedoch keineswegs positiv aus. Durch eine clevere rhetorische Verbindung zwischen den (in den "Notes" eigentlich zaghaft formulierten) Forderungen Jeffersons nach einer Freilassung der Sklaven und dem Sklavenaufstand auf der Karibikinsel Saint Domingue (Haiti) von 1791 kreiert der Pamphletist ein wirkungsvolles Schreckensszenario für die Sklavenhalter Virginias, wenn er bekundet: "There is no theorist wilder than Thomas Jefferson […]. Is it then prudent for the southern states, to give their aid to raise to the chief power in the country, the man who cherishes opinions so hostile to their interest, nay to their very existence." [13] Mit anderen Worten: ein radikaler Intellektueller wie Jefferson an der politischen Spitze des Staates würde die öffentliche Ordnung, die bestehenden Besitzverhältnisse und nicht zuletzt die Sicherheit in den Südstaaten gefährden.

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Während Desaussure besonders die Radikalität Jeffersons beklagte (und dabei nicht davor zurückschreckte, ihn mit dem wegen seiner religionskritischen Äußerungen in Ungnade gefallenen Thomas Paine zu verbinden), so ging ein Pamphlet aus dem Wahljahr 1796 noch einen Schritt weiter und verfolgte die zweite Strategie. Es sprach Intellektuellen die grundsätzliche Eignung für das Amt des Präsidenten ab: "[…] of all beings, a philosopher, makes the worst politician", [14] argumentierte der anonyme Verfasser. Klassische Charaktereigenschaften eines Philosophen seien Ängstlichkeit, Grillenhaftigkeit und eine zögernde, abwartende Haltung, während das Amt des Präsidenten prompte und energische Entscheidungen verlange. Ein moralisierender Philosoph als Präsident könne einen möglichen Aufstand der Bevölkerung niemals niederschlagen und würde stattdessen auf die Macht seiner Gedanken vertrauen, mit denen er die Menschen angeblich wieder zur Räson bringen könne. Ein Philosoph, der sich solch törichten Ideen verschrieb, könne niemals Präsident sein, so das Argument dieses Pamphlets. [15]

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Jefferson vermied es stets, auf diffamierende Kritik an seiner Person direkt zu antworten, und die Pamphletisten der 'Federalists' konnten seine Wahl 1800 nicht verhindern. Dennoch wurden ihm Ende der 1790er Jahre die Schwierigkeiten seiner Doppelrolle als Politiker und Intellektueller zunehmend bewusst. So beklagte er sich 1798 in einem Brief über die zunehmenden Angriffe der 'Tory Party' gegen seine Person. Jefferson erkannte dabei, dass die Veröffentlichung der "Notes on Virginia" seiner politischen Karriere eher schadeten als nutzten: "'Oh! that mine enemy would write a book!' has been a well known prayer against an enemy. I had written a book, and it has furnished matter of abuse for want of something better." [16] Obwohl der Einfluss föderalistischer Pamphletisten auf die Wählerschaft insbesondere im Westen der USA gering war, wurde Thomas Jefferson zusehends vorsichtiger in seinen intellektuellen Äußerungen, schrieb niemals wieder ein Buch und zog sich in seine Brieffreundschaften innerhalb der transatlantischen Gelehrtenrepublik zurück. Intellektualität und politische Macht, so musste er verstehen, passten im immer stärker demokratisch organisierten politischen Leben der Vereinigten Staaten nicht mehr zusammen.

Anmerkungen

[1] Thomas Jefferson an den Marquis de Lafayette, 4. November 1823, in: Paul Leicester Ford (Hg.): The Works of Thomas Jefferson, Bd. 12, New York 1905, 321-325, hier: 322.

[2] Thomas Jefferson an Edward Carrington, 16. Januar 1787, in: Julian P. Boyd u.a. (Hg.): The Papers of Thomas Jefferson, Bd. 11, Princeton / New Jersey 1955, 48ff., hier: 49.

[3] Thomas Jefferson: Autobiography, in: Merril D. Peterson (Hg.): Thomas Jefferson. Writings, New York 1984, 3-101, hier: 5.

[4] Siehe zu diesem Punkt auch Francis D. Cogliano: Thomas Jefferson. Reputation and Legacy, Charlottesville / Virginia 2006, 220. Ironischerweise war es aber doch ein Intellektueller, Thomas Paine, der mit seinem Pamphlet "Common Sense" die öffentliche Meinung endgültig zur Revolution gegen Großbritannien bewegte.

[5] Vgl. Jefferson: Autobiography (wie Anm. 3), 10.

[6] Vgl. John Adams an Thomas Jefferson, 22. Mai 1785, in: Boyd u.a. (Hg): Papers of Thomas Jefferson (wie Anm. 2), Bd. 8, Princeton / New Jersey 1973,159f., hier: 160.

[7] Thomas Jefferson an den Marquis de Chastellux, 7. Juni 1785, in: Boyd u.a. (Hg.): Papers of Thomas Jefferson (wie Anm. 2), Bd. 8, 184ff., hier: 184. Gegenüber James Madison wurde er noch deutlicher: "[…] in no event do I propose to admit them [the "Notes", HS] to go to the public at large". Thomas Jefferson an James Madison, 11. Mai 1785, in: ebd., 147f., hier: 148.

[8] Thomas Jefferson an Samuel Knox, 12. Februar 1810, in: J. Jefferson Looney: The Papers of Thomas Jefferson. Retirement Series, Bd. 2, Princeton / New Jersey 2005, 215f., hier: 215.

[9] Thomas Jefferson an Chastellux, 7. Juni 1785 (wie Anm. 7), hier: 184. Zur Verteilung der "Notes" unter Studenten in Virginia siehe auch Thomas Jefferson an James Madison, 11. Mai 1785 (wie Anm. 7), 147f.; James Madison an Thomas Jefferson, 15. November 1785, in: Robert A. Rutland / William M.E. Rachal (Hg.): The Paper of James Madison, Bd. 8, Chicago 1973, 415f.

[10] Dieser Satz Jeffersons ist insbesondere in der Frage des Eigentumsrechts an Ideen berühmt geworden. Thomas Jefferson an Isaac McPherson, 13. August 1813, in: Peterson (Hg.): Writings (wie Anm. 3), 1286-1294, hier: 1291.

[11] Einen guten Überblick zu beiden Wahlen bietet John Ferling: Adams vs. Jefferson. The Tumultuous Election of 1800, Oxford 2004.

[12] Henry William Desaussure: Address to the Citizens of South-Carolina on the Aproaching Election of President and Vice-President of the United States. Charleston 1800, 15.

[13] Desaussure: Address (wie Anm. 12), 16.

[14] The Pretensions of Thomas Jefferson to the Presidency Examined, Philadelphia 1796, 14f.

[15] Vgl. Pretensions of Thomas Jefferson (wie Anm. 14), 15.

[16] Thomas Jefferson an Samuel Brown, 25. März 1798, in: Boyd u.a. (Hg.): Papers of Thomas Jefferson (wie Anm. 2), Bd. 30, Princeton / New Jersey 2003, 216.

Empfohlene Zitierweise
Hanno Scheerer, Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/5), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Zur Rolle der öffentlichen Meinung (Datum des letzten Besuchs).