Friedrich von Gentz (1764-1832) ‒ ein Intellektueller avant la lettre? Beobachtungen anhand der Quellenpublikation "Gentz digital"

Ein neues Quellenkorpus

Michael Rohrschneider

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Der zitierte Brief an Esterházy aus dem Jahr 1816 ist Bestandteil einer größeren digitalen Quellenpublikation, die jüngst zu Friedrich von Gentz realisiert werden konnte: "Gentz digital". [1] Diese digitale Plattform ‒ ein Kooperationsprojekt zwischen dem Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit der Universität zu Köln und der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln ‒ stellt Transkriptionen von rund 2.700 Briefen von Gentz, an Gentz bzw. von Dritten über Gentz kostenlos nach dem Prinzip des Open Access im Internet zur Verfügung.

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"Gentz digital" hat eine interessante Entstehungsgeschichte. Diese Quellenpublikation geht nämlich auf die sogenannte "Sammlung Herterich" der USB Köln zurück, die gewissermaßen ein 'virtuelles Archiv' der umfangreichen, weltweit verstreuten Gentz-Korrespondenz darstellt. [2] Der studierte Historiker und Kölner Politiker Günter Herterich (1939-2014) hat nach Beendigung seiner aktiven politischen Karriere in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre rund anderthalb Jahrzehnte lang in aller Welt Gentz-Material gesammelt. Ziel seiner Anstrengungen war es, eine längst fällige Neuedition der Werke und Briefe Gentz' zu bewerkstelligen. [3] Da er dieses Vorhaben aufgrund einer schweren Erkrankung nicht mehr zu Ende führen konnte, hat er seine immense Materialsammlung der USB Köln übereignet. Diese Sammlung umfasst neben einigen Originalbriefen über 500 Ordner bzw. Kartons, etwa 120 Mikrofilme mit Material zu Gentz und etwa 2.700 von Herterich selbst transkribierte Briefe von bzw. an Gentz in Dateiform. Seit Kurzem ist sie als Dauerleihgabe in den Räumen der im Oktober 2014 neu gegründeten Forschungsstelle "Universitätssammlung Friedrich von Gentz" einsehbar. [4]

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Für die Forschung ist die "Sammlung Herterich" ein echter Glücksfall: Sie enthält umfangreiches Material, das nicht nur die Gentz-Forschung auf eine neue Grundlage stellt, sondern darüber hinaus auch für die Erforschung der vielgestaltigen Transformationsprozesse um 1800 insgesamt von großer Relevanz ist. Sammlungsschwerpunkte sind die Werke Gentz', seine Tagebücher, Sekundärliteratur zu Gentz und seiner Zeit, die umfangreiche Korrespondenz Herterichs mit Archiven, Bibliotheken und Privatpersonen zur Ermittlung von Gentz-Material und insbesondere, als eigentlicher Kern der Sammlung, die Briefe von und an Gentz.

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Die mit dem Ziel einer Edition von Herterich zusammengetragene Gentz-Korrespondenz liegt in unterschiedlichen Überlieferungsformen in der "Sammlung Herterich" vor. Neben wenigen Originalen enthält die Sammlung bereits vorliegende ältere Drucke und als Xerokopien bzw. auf Mikrofilm umfangreiches Briefmaterial aus zahlreichen Archiven, Bibliotheken und sonstigen Institutionen weltweit. Auf Grundlage dieser Mikrofilme und Xerokopien hat Herterich Transkriptionsentwürfe zu den Gentz-Briefen angefertigt. Diese Transkriptionen liegen in unterschiedlichen Überlieferungsformen vor (handschriftlich, mit Schreibmaschine getippt, elektronisch in Dateiform). Wenn es ihm zeitlich und finanziell möglich war, hat Herterich sie vor Ort am Original überprüft.

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Die in digitaler Form erhaltenen Transkriptionen Herterichs bilden das Fundament von "Gentz digital". Erklärtes Ziel dieser Quellenpublikation ist es, den in eine standardisierte Form gebrachten letzten Stand der unvollendeten Sammlungs- und Transkriptionstätigkeit Herterichs abzubilden. [5] "Gentz digital" ist also ‒ das muss ausdrücklich betont werden ‒ keine fertige Edition!

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Von den 2.675 in "Gentz digital" präsentierten Briefen sind weit über 50 Prozent bisher überhaupt noch nicht gedruckt worden. Hinzu kommt, dass zahlreiche der bereits bekannten Briefe bislang nur auszugsweise oder sogar fehlerhaft abgedruckt wurden. In diesen Fällen hat Herterich mit seinen Transkriptionsentwürfen wichtige Ergänzungen und Fehlerberichtigungen vornehmen können. Stichproben haben zudem ergeben, dass die Qualität der Herterich-Transkriptionen insgesamt gesehen außerordentlich hoch zu veranschlagen ist. Herterich hat sich jahrelang intensiv mit der Handschrift Gentz' befasst und war daher in der Lage, dessen Schrift ‒ von einigen wenigen Ausnahmen vielleicht abgesehen ‒ fehlerfrei zu lesen. Hinzu kommt, dass er bei seinen Transkriptionen nach festen editionstechnischen Regeln vorgegangen ist, da er eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Edition der Gentz-Korrespondenz vorlegen wollte. Hierzu zählen der standardisierte Aufbau seiner geplanten Präsentation der einzelnen Briefe mit Kopfregest, Quellentext und Fußregest sowie der Verzicht auf Eingriffe in die Orthografie und Interpunktion des Originals.

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Die Bearbeitung der 2.675 Objekte für "Gentz digital" erfolgte nach dem Prinzip "Vereinheitlichungen ja, inhaltliche Eingriffe nein". Das heißt sowohl für die Kopf- und Fußregesten als auch für die eigentlichen Quellentexte wurde weitgehend diejenige standardisierte Form gewählt, die Herterich vorgesehen hat und die auch dem gängigen Prozedere in wissenschaftlichen Editionen entspricht. Die eigentlichen Brieftexte werden in "Gentz digital" in aller Regel vollkommen unverändert präsentiert, da es im Rahmen dieses Vorhabens nur ausnahmsweise möglich war, die Transkriptionsentwürfe Herterichs anhand der Originale selbst zu überprüfen. Lediglich interne Bearbeitungshinweise Herterichs (wie zum Beispiel fragmentarische Vermerke zur geplanten Kommentierung) und offenkundige Fehler wurden getilgt. Darüber hinaus wurden die Metadaten der Gentz-Korrespondenzen erschlossen und verzeichnet. [6] Im Rahmen dieses Arbeitsschritts sind erhebliche Vereinheitlichungen und punktuell auch Aktualisierungen vorgenommen worden.

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"Gentz digital" enthält mehrere Suchfunktionen, die für die Forschung einen erheblichen Zugewinn bedeuten, denn mit geringem Aufwand lassen sich damit gezielte begriffsgeschichtliche Studien betreiben, Personen und Ereignisse auffinden, Quellen- und Literaturrecherchen vornehmen usw. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, dass Gentz in deutscher und französischer Sprache korrespondiert hat. Wer zum Beispiel begriffsgeschichtlich arbeiten will, sollte neben dem deutschen Suchbegriff daher vergleichend auch das französische Pendant berücksichtigen.

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Insgesamt gesehen lässt sich konstatieren, dass die mit "Gentz digital" präsentierten 2.675 Objekte zwar das Fehlen einer historisch-kritischen Edition der Gentz-Korrespondenz nicht kompensieren können; ein solches Editionsvorhaben ließe sich aufgrund der großen Materialmenge ‒ aktuell schätzen wir, dass etwa 7.000 Briefe von und an Gentz insgesamt überliefert sind ‒ nur im Rahmen eines großen, langfristigen Forschungsvorhabens realisieren. Das in "Gentz digital" versammelte umfangreiche Quellenmaterial wäre aber eine hervorragende Ausgangsbasis für ein solches Editionsprojekt und dokumentiert eindrucksvoll, dass die Aussagekraft der Gentz-Briefe im Hinblick auf die allgemeine Erforschung der vielgestaltigen Transformationsprozesse des späten 18. und der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts kaum zu überbieten ist.

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Dies gilt auch und gerade für Studien zur Entstehung des modernen 'public intellectual'. "Gentz digital" verfügt über eine ganze Reihe von Zugriffsmöglichkeiten ‒ inhaltliche Einführungen, Register, Übersichten mit 'clouds' (Jahr, Ort, Briefempfänger) sowie verschiedene Suchfunktionen ‒, mit denen man entsprechenden Fragestellungen nachgehen kann. So ergibt eine Volltextsuche zum Wortfeld "intellektuell / intellectuel" aussagekräftige Befunde. Auf den Brief Gentz' an Esterházy vom 15. Januar 1816 wurde bereits hingewiesen. [7] Aufschlussreich ist auch der bislang ungedruckte Brief Gentz' an Philip Henry Earl of Stanhope (1781-1855) vom 19. Januar 1829. Über den Tod seines Freundes Adam Müller (1779-1829) äußerte sich Gentz hier nämlich wie folgt: "An ihm verliere ich meinen ältsten und vertrautesten Freund, und weit mehr noch als das: einen von früher Jugend an mit meinem Geiste so nahe verwandten, für meine intellectuelle Existenz so nothwendigen, mit mir so enge verwachsnen Geist, daß mich der Himmel nicht härter hätte strafen können, wenn er <mir> einen wesentlichen Theil meines Selbst aus der Seele gerissen hätte." [8] Da sich zudem in anderen Briefen Formulierungen wie zum Beispiel "intellectuelle Nahrung" [9], "intellectuelle und moralische Anarchie des Zeitalters" [10] oder auch "lumières intellectuelles" [11] finden, lässt sich belegen, dass Gentz seine persönliche "Existenz" [12] und seine individuellen Bedürfnisse ("besoin") [13] ausdrücklich mit dem Begriff "intellectuel(le)" in Verbindung brachte.
 

Anmerkungen

[1] Vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/home.html?l=de <30.09.2015>; zum Folgenden vgl. auch Michael Rohrschneider: Friedrich von Gentz ‒ in digitalem Gewand: Eine neue Quellenpublikation zum "Sekretär Europas" im Jubiläumsjahr des Wiener Kongresses, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), 727-737.

[2] Vgl. http://www.ub.uni-koeln.de/sammlungen/gentz/index_ger.html <30.09.2015>.

[3] Einen Nachdruck von Schriften und Briefen Gentz' in 24 Teilbänden hat vor einigen Jahren Günther Kronenbitter vorgelegt; vgl. Friedrich Gentz: Gesammelte Schriften. Bd. 1-12. Hg. von Günther Kronenbitter (= Historia Scientiarum. Fachgebiet Geschichte und Politik), ND Hildesheim / Zürich / New York 1997-2004. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine neue Edition, sondern lediglich um reprografische Nachdrucke älterer Werke.

[4] Vgl. https://www.ub.uni-koeln.de/sammlungen/gentz/index_ger.html <11.05.2022>.

[5] Eingesetzt wurde für "Gentz digital" die Software CONTENTdm, welche die USB Köln seit mehreren Jahren für die digitale Erschließung ihrer Sammlungen verwendet.

[6] Erfasst wurden von den Gentz-Korrespondenzen folgende Metadaten: Titel des Objekts, Brieftyp (Briefe von Gentz, Briefe an Gentz, Briefe Dritter), Ausstellungsort, Datum, Jahr, Monat, Briefaussteller, Briefempfänger, Präsentatvermerk, Handschriftliche Überlieferung, Druckorte, Format und Umfang, Art der Überlieferung (Konzept, Abschrift, Interzept usw.) und Incipit (Textanfang des Briefes). Jedes Objekt hat eine eigene Kennung (ID).

[7] Vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/5345.html?l=de <30.09.2015>.

[8] Bisher ungedruckt; zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/2629.html?l=de <30.09.2015>.

[9] Brief an Franz von Ottenfels-Gschwind, Wien, 18.11.1826 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/3059.html?l=de <30.09.2015>.

[10] Brief an Joseph Anton von Pilat, Gastein, 20. September 1826; Druck: Karl Mendelssohn-Bartholdy (Hg.): Briefe von Friedrich von Gentz an Pilat. Ein Beitrag zur Geschichte Deutschlands im XIX. Jahrhundert, 2. Bd., Leipzig 1868, ND Hildesheim / Zürich / New York 2002, 218-221, hier: 221; vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/3101.html?l=de <30.09.2015>.

[11] Brief an Johann Philipp von Wessenberg, Wien, 26.12.1815; Druck: August Fournier: Gentz und Wessenberg. Briefe des Ersten an den Zweiten, Wien / Leipzig 1907, 99; vgl. "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/2399.html?l=de <30.09.2015>.

[12] Vgl. Gentz an Philip Henry Earl of Stanhope, Wien 19.12.1829 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/2629.html?l=de <30.09.2015>.

[13] Vgl. Gentz an Paul Anton Fürst von Esterházy von Galántha, Wien 15.1.1816 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital", http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/5345.html?l=de <30.09.2015>.

Empfohlene Zitierweise
Michael Rohrschneider, Friedrich von Gentz (1764-1832) ‒ ein Intellektueller avant la lettre? Beobachtungen anhand der Quellenpublikation "Gentz digital" (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/9), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Ein neues Quellenkorpus (Datum des letzten Besuchs).