Von Berlin nach Wien – Friedrich von Gentz als intellektueller Grenzgänger

Das "politische Glaubensbekenntnis"

Alexandra Nebelung

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Eines der interessantesten Zeugnisse Gentz' ist ein Brief aus dem Jahr 1827 an die Schriftstellerin Amalie von Helvig. Gentz begegnete ihr 1801 in Weimar. Amalie, die damals noch von Imhoff hieß, war als Hofdame bei der Herzogin von Weimar angestellt. [1] Sie gehörte zum Kreis der Schriftsteller um Goethe, Schiller und Herder, mit denen Gentz während seines Aufenthaltes regelmäßig verkehrte. [2] Amalie schrieb Gentz, mit dem sie seit über zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatte, und bat ihn um eine persönliche Stellungnahme zu seiner Politik und seinem Leben. Der Brief selbst ist nicht erhalten, aber das Antwortschreiben Gentz', und die von ihm aus Amalies Brief zitierten Passagen erlauben diesen Rückschluss. In ihrem Brief kritisierte sie Gentz und seine politische Haltung, die sich seit Beginn des Jahrhunderts sehr geändert hatte. [3]

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Um den Vorwürfen Amalies zu begegnen, ließ Gentz sein Leben Revue passieren. In einer abstrakten Zusammenfassung seiner Biografie beschrieb er, wie er schon 1789 gewusst haben wollte, dass er "zu einem Verteidiger des Alten und zu einem Gegner der Neuerungen berufen war." [4] Seinen weiteren Lebensweg unterteilte er in drei Stufen, seine Zeit in Berlin, "auf Lektüre und Studium beschränkt", ohne Zugang zur Politik, dann sein Wechsel nach Wien, wo er zu Beginn lediglich "ein reiner Volontär" war und schließlich der Beginn seiner politischen Laufbahn 1812. [5] Gentz schrieb seinem Umzug nach Wien eine entscheidende Bedeutung in seiner Entwicklung zu und unterschied zwischen dem Studenten, der sich nur theoretisch mit der Welt auseinandersetzt, und dem Politiker, der sich der Realität stellen muss. Seine Aufgabe im österreichischen Staatsdienst verglich er mit der Pflicht eines Soldaten, der sein Land und sein Volk beschützen muss: "Ich ward in einem Staate […] in den wichtigsten Geschäften gebraucht. […] der Vertraute eines Ministers, dem die liberale Partei […] tödlichen Haß geschworen hat [...]." [6] Die Verpflichtung gegenüber dem österreichischen Staat und Metternich war für Gentz Grund genug an einer aussichtslosen Sache festzuhalten: "nur ein schlechter Soldat verläßt seine Fahne, wenn das Glück ihr abhold zu werden scheint [...]." [7] Der Kampf um die alten Prinzipien hatte seinen Sinn laut Gentz nicht in einem endlichen Sieg, sondern sollte das Neue aufhalten und eindämmen, um ihm dann letztlich doch zum Opfer zu fallen, sodass "der Zeitgeist zuletzt mächtiger bleiben würde als wir [...]." [8]

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Gegen den Vorwurf, "eines der rüstigsten Werkzeuge des Despotismus" gewesen zu sein, wehrte sich Gentz. [9] In seiner Belehrung Amalies über die griechische Revolution unterschied er zwischen dem Staatsmann und dem normalen Bürger, der sich "schönen Illusionen" hingeben darf. [10] Er sprach ihr genauere Kenntnisse über die Situation in Griechenland ab und sah sich selbst als Experte in dieser Sache: "Ich, in die Sorgen und Schrecken einer traurigen Realität gebannt, sah in der griechischen Sache nichts als eine Episode in den furchtbaren politischen Verwicklungen unseres Zeitalters [...]." [11] So, wie sich auch der Student Friedrich Gentz den schönen Theorien hingeben durfte, musste sich der Politiker Gentz der Realität stellen und pragmatisch denken. Er selbst sah darin keinen Verrat seiner Prinzipien oder seines Charakters, sondern betonte, "daß meine Denkungsart und mein Charakter sich immer gleich geblieben sind [...]." [12] Gentz unterschied zwischen Theorie und Praxis und behauptete, dass jeder Mensch, sowie sich seine Position und Aufgabe ändern, seine Haltung überdenken müsse.

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Gentz nannte diesen Brief sein "politisches Glaubensbekenntnis". [13] Ein Vierteljahrhundert trennte ihn von seinem ehemaligen Dasein als Publizist und Salonbesucher der Literaturkreise um Goethe, Schiller, Humboldt und Amalie von Helvig. Damals hatte er sich noch gegen eine Zensur gestellt und zählte zu demjenigen Typus des politischen Schriftstellers, den er später in der Restaurationszeit mit Metternich bekämpfte. Diesen Teil seines Lebens bezeichnete Gentz als abgeschlossen, eine Phase in seinem Werdegang. Er gliederte diesen aufsteigend vom Studenten über den "Volontär" zum Politiker. Die Rechtfertigung Gentz' liegt in der Aussage, sein Wissen über Politik und sein Verständnis des Weltgeschehens hätten sich vergrößert, seit er in der Politik tätig sei. Seine neue Position hätte ihm mehr Überblick gegeben und naturgemäß seine Haltung zu den Dingen verändert. Gentz grenzte sich also von der Schriftstellerin Amalie von Helvig ab, sie sei eine Außenstehende, er dagegen Politiker. Schon kurz nach Beginn seiner Karriere als Metternichs rechte Hand hatte er sich dementsprechend geäußert und sich von der politischen Literatur distanziert. Dabei war es gerade die Publizistik, die Gentz bekannt gemacht und ihm die Türen in Wien geöffnet hatte.
 

Anmerkungen

[1] Vgl. Golo Mann: Friedrich von Gentz. Geschichte eines europäischen Staatsmannes, Zürich 1947, 82.

[2] Vgl. Günther Kronenbitter: Vorwort, in: Günther ders. (Hg.): Friedrich Gentz: Gesammelte Schriften, Bd. 12 / 1, Hildesheim / Zürich / New York 2004, 5-11, hier: 7ff.

[3] Vgl. Hans von Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz. Staatsschriften und Briefe, 2 Bde., München 1921, hier: Bd. 2, 267.

[4] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 268.

[5] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 268f.

[6] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 269.

[7] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 270.

[8] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 270.

[9] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 269.

[10] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 270.

[11] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 271.

[12] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 270.

[13] Eckardt (Hg.): Friedrich von Gentz (wie Anm. 3), Bd. 2, 272.

Empfohlene Zitierweise
Alexandra Nebelung, Von Berlin nach Wien – Friedrich von Gentz als intellektueller Grenzgänger (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/2), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Das "politische Glaubensbekenntnis" (Datum des letzten Besuchs).