Die Korrespondenz des Friedrich von Gentz mit dem Internuntius Franz Freiherr von Ottenfels-Gschwind in den Jahren 1822-1825

Fremdwahrnehmungen

Christian Maiwald

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Wenn nun von den Bildern 'der Türken' in den entsprechenden Gentz-Briefen die Rede sein soll, muss darauf hingewiesen werden, dass Gentz ausschließlich den ethnischen Terminus 'Türken', niemals den politisch-dynastischen 'Osmanen' verwendete. Mag diese Verwendung aus herrschaftssoziologischer Perspektive nicht korrekt sein, da das Osmanische Reich ein Imperium mit multiethnischer Herrschaftselite war, so folgte er hierin doch einer Konvention seiner Zeit, ähnlich wie beispielsweise auch Johann Gottfried Herder, mit dem er nachweislich in Kontakt stand. [1]

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Da die österreichische Außenpolitik der 1820er Jahre auf Verständigung mit dem Osmanischen Reich zielte, überrascht es nicht, in mehreren Briefen Beteuerungen der freundschaftlichen Gesinnung gegenüber den Türken zu finden. [2] Sogar persönliche Freundschaftsbekundungen auch in Form von Gabentausch zwischen Gentz und dem Reis Effendi, einem wichtigen osmanischen Funktionsträger, sind zu erkennen. [3] Zudem begegnet häufig die politische Einschätzung von der großen Bedeutung für Österreich und auch für Gesamteuropa, das 'Türkische Reich' zu erhalten. [4]

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Was nun dieses 'Türkische Reich' betrifft, folgte Gentz offenbar einer kartographischen Konvention des 18. Jahrhunderts, zwischen dem 'Türkischen Reich in Europa', also den osmanischen Besitzungen auf dem europäischen Kontinent, und der 'Rest'-Türkei zu differenzieren. [5] In gewisser Weise zeigte sich darin bereits neben der geographischen eine ideell-wertbezogene Konstruktion von Räumlichkeit. Zumindest könnte man dieser expliziten Zuschreibung eines 'Türkischen Reiches in Europa' eine graduelle Differenzsetzung entnehmen. Zwischen Europa auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite befand sich ein räumliches Gebilde, welches einen Sonderstatus einnahm. Der amerikanische Historiker Larry Wolff hat dieses Phänomen in seinen Arbeiten zur "Erfindung Osteuropas" vielsagend als "Europe but not Europe" umschrieben. [6]

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Am 'asiatischen Charakter' der Türken schien für Gentz zumindest kein Zweifel zu bestehen, wenn er die Türken in einem durchaus anrüchigen Kontext als "asiatisches Heldenvolk" bezeichnete: "Warum nicht dort zum wenigsten einen Ausrottungs-Krieg? Alles niedergemacht, das an die Wand pißt! So vergeht den Nachbarn die Lust, verödete Länder zu erobern. Auch diese Krieges-Manier sollte ein Asiatisches Heldenvolk ganz verlernt haben?" [7] Tatsächlich verbarg sich hinter dieser rückwärtsgewandten Beschwörung einstiger asiatischer Zerstörungswut der Vorwurf der zeitgenössischen militärischen Unfähigkeit. Hatte man nicht einst besonders das militärische Potenzial der Osmanen gefürchtet und zugleich bewundert? War Asien nicht einst der Kontinent der Steppenkrieger, Eroberer und Usurpatoren gewesen? Häufig beklagte sich Gentz bitterlich über die militärische Unfähigkeit der Türken, dem griechischen Aufstand ein Ende zu setzen: "Keine Revolution zerfällt in sich selbst; alle, auch die anscheinend verächtlichsten, müßen mit Feuer und Schwert gedämpft werden. Das vermogten in Neapel, Piemont, Spanien, Mächte die Kanonen zu gebrauchen verstanden; die Türken verstehen es, leider, nicht mehr". [8]

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Allerdings ist der Vorwurf militärischer Unfähigkeit nur ein Versatzstück einer nahezu endlosen Klaviatur von negativ-konnotierten Wesensmerkmalen, die den Türken von Gentz zugeschrieben wurden. Einige davon erinnern durchaus an die von Oliver Schulz als 'orientalistische Sichtweise' bezeichneten Vorstellungen und Fremdwahrnehmungen, die in England, Frankreich und Russland über die Osmanen kursierten. So sprach Gentz in einem Brief an Ottenfels vom April / Mai 1824 von "Türkische[r] Dummheit und Brutalität". [9] Genau diese Fremdbilder wurden im philhellenisch beeinflussten, gesamteuropäischen Diskurs immer wieder reprojiziert und dadurch weiter reproduziert, um die europäische Überlegenheit zu manifestieren, was sich schließlich auch in den Wahrnehmungsmustern und Verhaltensweisen europäischer Politiker, Diplomaten und Publizisten niederschlagen musste. Aus diesem somit konstruierten Zivilisationsgefälle zwischen Europa einerseits und dem asiatischen Osmanischen Reich andererseits entsprang dann geradezu eine Legitimation für Intervention und Einmischung in innerosmanische Angelegenheiten.

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Tatsächlich kritisierte Gentz in einem Brief an den Publizisten Johann Baptist von Pfeilschifter vom 15. August 1822 den inflationären Gebrauch des Zivilisationsbegriffs. [10] Doch begegnen auch in seinen Briefen an Ottenfels an mehreren Stellen Hinweise auf eine vermeintliche europäische Überlegenheit. Das deutlichste Unterscheidungskriterium zwischen Europa und Asien, die entscheidende 'differentia specifica' bestand für Gentz in der überlegenen europäischen Staatskunst. Zwei Zitate belegen dies eindrucksvoll. Zum einen, wenn er anmerkte: "Ich weiß nicht, ob die Türkischen Minister für coups dieser Art ganz unempfänglich sind; so viel ist gewiß, daß ein Europäisches Cabinet leicht Sinn dafür gewinnen würde". [11] Zum anderen, wenn er konstatierte: "Wäre die Pforte eine Macht, bey welcher Vernunft-Gründe und politische Raisonnements gälten […] So aber [...]." [12] Die politische Einmischung durch europäische Diplomaten auch in staatsinterne Angelegenheiten des Osmanischen Reiches geschah somit aus einem überlegenen Verständnis, einer überlegenen Fähigkeit heraus. Sie wurde als Wohltat verstanden. In mehreren Briefen finden sich Hinweise darauf, dass Ottenfels als notwendige Führungsgestalt für die osmanischen Funktionsträger agieren sollte. So seien dem Reis Effendi, einem der höchsten osmanischen Staatsdiener, sogar Ideen "einzubläuen". [13]

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Den Aspekt einer sublimen europäischen Staatskunst als vielleicht wichtigstem Differenzkriterium, an welchem sich die überlegene europäische Zivilisation ausmachen ließ, betont auch Oliver Schulz, wenn er den "eklatante[n] Unterschied zwischen den glatten diplomatischen Floskeln der Europäer, welche ihre wahren Motive und Interessen verschleierten, und der unverblümten, 'undiplomatischen' Sprache des Reis Effendi" [14] erwähnt. Was heißt das nun genau? Unterschieden sich die Gentz'schen Differenzwahrnehmungen in keinem Punkt vom gesamteuropäischen Diskurs? Waren antiosmanische Gesinnungen trotz divergierender politischer Ziele in allen europäischen Kabinetten vorherrschend?

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Tatsächlich bestand – so die These beim aktuellen Forschungsstand – ein ganz entscheidender Unterschied zwischen den Gentz'schen und anderen Wahrnehmungsmustern. Und zwar war das durchaus als Überlegenheit bewertete Differenzkriterium der zwischenstaatlichen, diplomatischen Kunst für Gentz überbrückbar, also eben nicht natürlich gegeben oder unveränderlich. Die zumindest theoretische Vereinbarkeit von europäischen diplomatischen Maßstäben und osmanischer Staatspraxis wurde dadurch verdeutlicht, dass Gentz über Ratschläge sinnierte, wie sich die osmanischen Funktionsträger zu verhalten hätten, um im diplomatischen Zwist mit den aggressiven europäischen Mächten, insbesondere Russland, deren Ansprüche zu parieren. Würde die Hohe Pforte von den Techniken europäischer Diplomatie Gebrauch machen, wozu sie aus Gentz' Sicht wohl in der Lage schien, könnte sie die gefährlichen Schein-Argumente, die eine mögliche Anwendung von Zwangsmaßnahmen legitimieren sollten, entkräften. Dazu bedurfte es nur einer gleichermaßen subtilen, verschleiernden Sprache. [15]

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In Berücksichtigung dieser Interpretation lässt sich eventuell auch das beachtliche Ausmaß der negativen, den Türken zugeschriebenen Wesensmerkmale erklären. Dass diese nämlich offenbar nicht seinen beherzigten Ratschlägen Folge leisteten, echauffierte Gentz zutiefst. Beachtet man nun erneut die Ansammlung von negativen Fremdbildern, fällt auf, dass Verweigerungsattribute [16] eine besondere Rolle spielten, was kein Zufall gewesen sein dürfte, zumal Gentz ab dem Frühjahr 1825 damit begann, den Türken die alleinige Schuld für eine mögliche Eskalation der angespannten europäisch-türkischen Verhältnisse zuzuschreiben. [17] Interessant wären in diesem Zusammenhang weitere Nachforschungen, ob die zusehends erkennbare Resignation auch eine Veränderung der österreichischen Positionierung in den 'Orientalischen Angelegenheiten' zur Folge hatte.

Anmerkungen

[1] Brief von Herder an Gentz, Weimar, 17.12.1794 (bisher ungedruckt), der auf intellektuellen Austausch hindeutet; vgl. "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/1719.html?l=en <02.10.2015>.

[2] Dazu Gentz an Ottenfels, Wien, 19.04.1823 (bisher ungedruckt); vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/2227.html?l=en <02.10.2015>; Gentz an Ottenfels, Wien, 19.07.1825 (bisher ungedruckt); vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/257.html?l=en <02.10.2015>.

[3] Dazu Gentz an Ottenfels, Wien, 16.08.1825 (bisher ungedruckt); vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/4665.html?l=en <02.10.2015>.

[4] Dazu Gentz an Ottenfels, Wien, 17.12.1823 (bisher ungedruckt): "Das Schicksal der Türken ist in das Schicksal Europas so tief verwebt, daß nichts auf seinem Platze bleiben kan, wenn die Türken gezwungen werden, den ihrigen zu verlaßen"; zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/517.html?l=en <02.10.2015>.

[5] Dazu Gentz an Ottenfels, Weinhaus, 02.07.1823 (bisher ungedruckt); vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/3247.html?l=en <02.10.2015>; Gentz an Ottenfels, Wien, 17.09.1823 (bisher ungedruckt); vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/4339.html?l=en <02.10.2015>.

[6] Vgl. Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The map of civilization on the mind of the enlightenment, Stanford / California 1994.

[7] Gentz an Ottenfels, Wien, 03.11.1824 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/4585.html?l=en <02.10.2015>.

[8] Wie Anm. 7.

[9] Gentz an Ottenfels, Wien, 25.04. / 05.05.1824; Druck (Auszug): Anton Graf Prokesch-Osten jun. (Hg.): Zur Geschichte der orientalischen Frage. Briefe aus dem Nachlasse Friedrichs von Gentz 1823-1829, Wien 1877, 20-24; zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/4791.html?l=en <02.10.2015>.

[10] Vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/3577.html?l=en <02.10.2015>.

[11] Gentz an Ottenfels, Wien, 19.11.1823 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/3657.html?l=en <02.10.2015>.

[12] Gentz an Ottenfels, Wien, 17. / 18.06.1825 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/4673.html?l=en <02.10.2015>.

[13] Gentz an Ottenfels, Wien, 27.01.1825 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/41.html?l=en <02.10.2015>.

[14] Oliver Schulz: 'This clumsy fabric of barbarous power'. Die europäische Außenpolitik und der außereuropäische Raum am Beispiel des Osmanischen Reiches, in: Wolfram Pyta (Hg.): Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg 1853 (= Stuttgarter historische Forschungen 9), Köln u.a. 2009, 273-298, hier: 287.

[15] Das Ziel der osmanischen Diplomatie müsste es sein "d'opposer des manoeuvres diplomatiques à des chimères"; Gentz an Ottenfels, Mailand, 10.05.1825 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/2395.html?l=en <02.10.2015>.

[16] Die osmanischen Verantwortlichen, die "Türkischen Minister" zeichneten sich für Gentz durch ihre "absolute Ungelehrigkeit" aus; so Gentz an Ottenfels, Wien, 16.08.1825 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/4665.html?l=en <02.10.2015>.

[17] Brief an Ottenfels, Wien, 19.02.1825 (bisher ungedruckt); darin vermerkte Gentz zu den 'Türken' plakativ: "Nimmt ihre Sache eine schlechte Wendung, so ist es von nun an ausschließend ihre Schuld"; zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/5121.html?l=de <02.10.2015>.

Empfohlene Zitierweise
Christian Maiwald, Die Korrespondenz des Friedrich von Gentz mit dem Internuntius Franz Freiherr von Ottenfels-Gschwind in den Jahren 1822-1825 (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/4), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Fremdwahrnehmungen (Datum des letzten Besuchs).