Intellektuelle Akteure in europäischen Zentren

Einführung: Friedrich von Gentz – ein 'intellektuelles' Leben im Brennpunkt der europäischen Metropolen

Michael Rohrschneider

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Friedrich von Gentz (1764-1832) zählt zu den vergleichsweise gut erforschten, sowohl von den Zeitgenossen als auch der nachfolgenden Historiografie ausgesprochen kontrovers beurteilten Persönlichkeiten des europäischen Geschehens im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. [1] Weshalb seine Persönlichkeit und sein Wirken in besonders markanter Weise polarisieren, wird anhand der Beiträge dieser Sektion exemplarisch deutlich: Nach Anfängen in preußischen Diensten wechselte Gentz im Jahre 1802 von Berlin nach Wien und avancierte dort nicht nur als "Ghostwriter" [2] Metternichs und Sekretär der internationalen Kongresse 1814-1822 zu einem führenden publizistischen und politischen Akteur Europas, sondern er vollzog bekanntlich seit seinen Anfängen als maßgeblich vom spätaufklärerischen Diskurs geprägter 'Intellektueller' nachfolgend auch eine bemerkenswerte politische Wandlung zu einem Protagonisten des restaurativ-repressiven 'Systems Metternich'.

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Dass Gentz diesen oft thematisierten Wandel, der sich am nachdrücklichsten in seiner Haltung gegenüber der Französischen Revolution von 1789 manifestierte und ihm unter anderem den Vorwurf des Opportunismus eintrug, rückblickend harmonisierte, zeigt Alexandra Nebelung in ihrem Beitrag zu seiner Vita. Insbesondere ein viel zitierter Brief Gentz' an Amalie von Helvig aus dem Jahr 1827 lässt exemplarisch erkennen, dass er sehr darum bemüht war, das harmonisierende Narrativ einer vermeintlichen Konstanz seiner politischen und ideellen Überzeugungen zu konstruieren und damit auch die gegen seine Person gerichteten Vorwürfe zu entkräften. [3]

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Wie stark Gentz im öffentlichen Diskurs seiner Zeit unter Beschuss stand, verdeutlicht der Beitrag von Bernd Klesmann über den im Jahre 1815 in Paris gegründeten, liberal orientierten "Constitutionnel", eine der größten Tageszeitungen des postnapoleonischen Frankreich. [4] Gentz, der sich intensiv inhaltlich mit dem "Constitutionnel" auseinandersetzte, wurde nämlich als Repräsentant der restaurativen Politik Wiens in Artikeln dieser Zeitung wiederholt attackiert. Klesmanns Studie führt darüber hinaus in aller Deutlichkeit vor Augen, dass es zahlreiche Quellen gibt, die im Hinblick auf Gentz noch intensiv ausgewertet werden müssen.

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Gleiches gilt für den Beitrag von Christian Maiwald, der anhand des umfangreichen, bisher weitgehend unveröffentlichten Briefwechsels zwischen Gentz und dem österreichischen Botschafter in Konstantinopel, Franz Freiherr von Ottenfels-Gschwind, neue Details zum Wirken der rechten Hand Metternichs präsentiert. Gentz, der selbst nie im Orient war, zählte gleichwohl zu den zentralen Akteuren der Orientpolitik des Staatskanzlers und zu denjenigen Akteuren der österreichischen Monarchie, die über einen besonders guten Informationsstand über die Lage im Osmanischen Reich verfügten.

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Hintergrund der intensiven Beschäftigung Gentz' mit der 'Orientalischen Frage' war sicherlich, dass er ein besonders ausgeprägtes Gespür für die Interdependenzen zwischen Okzident und Orient hatte und entsprechenden politischen Wechselwirkungen große Bedeutung beimaß. In einem Brief an Ottenfels-Gschwind aus dem Oktober 1829 heißt es beispielsweise: "[...] das Türkische Reich, wenn gleich in seinen letzten Grundfesten erschüttert, wird stehen oder fallen, je nachdem sich die Keime der allgemeinen Zerstörung im übrigen Europa schneller oder langsamer entwickeln werden. Was Constantinopel bevorsteht, wird immer nur der Rückschlag des allgemeinen politischen Bankerutts seyn, der uns alle erwartet!" [5]

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Maiwalds Untersuchung ist zudem ein erstes Beispiel dafür, wie ergiebig eine inhaltliche Auswertung des neuen Quellenmaterials sein kann, das seit März 2015 durch die Quellenpublikation "Gentz digital" [6] online zur Verfügung steht. Denn die von ihm herangezogenen, im Original im kroatischen Nationalarchiv Zagreb aufbewahrten Korrespondenzen sind als Transkription nunmehr über die Plattform "Gentz digital" jederzeit und kostenlos im Internet greifbar.

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Der Beitrag Maiwalds verweist noch auf ein weiteres Signum dieser Sektion: Gemäß der Gesamtkonzeption dieses Sammelwerks werden nicht nur Beiträge arrivierter WissenschaftlerInnen publiziert, sondern besonderer Wert wird darauf gelegt, auch Studierenden und NachwuchswissenschaftlerInnen die Möglichkeit zu geben, die Erträge ihrer Untersuchungen zu Gentz einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. [7] Dementsprechend legen zwei Studierende hier ihre erste wissenschaftliche Publikation vor: Während Alexandra Nebelung Ergebnisse ihrer Kölner Bachelorarbeit zum Leben und Wirken Gentz' vorstellt, gibt Christian Maiwald einen ersten Ausblick auf den Themenkomplex seiner geplanten Masterarbeit. [8]

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Insgesamt gesehen zeigen die drei Beiträge dieser Sektionen, wie weit das Blickfeld Gentz' als 'Intellektueller', Publizist und politischer Akteur war: Zunächst in der preußischen, dann in der österreichischen Hauptstadt tätig, verharrte er nicht in einer Perspektive, die primär auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bzw. den Deutschen Bund sowie Europa fokussiert war. Vielmehr zeichnen sich seine Aktionsfelder und Interessensgebiete durch eine außerordentliche Breite aus, die nicht nur Berlin, Wien und die französische Metropole Paris, sondern wie selbstverständlich auch Konstantinopel umfasste. Dass Gentz sogar über Europa hinaus auch den amerikanischen Kontinent mit in sein Schrifttum einbezog, verdeutlicht die globalen Dimensionen seiner intellektuellen und politischen Interessen. Gerade diesen Sachverhalt sollte die Forschung zukünftig stärker ins Visier nehmen, als dies bisher der Fall war.

Anmerkungen

[1] Vgl. hierzu exemplarisch die neueste Biografie Gentz' von Harro Zimmermann: Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik, Paderborn u.a. 2012, sowie jüngst Raphaël Cahen: Friedrich Gentz (1764-1832): Penseur post-Lumières et acteur du renouveau de l'ordre européen au temps des révolutions. Thèse pour le doctorat en histoire du droit (France) / Inaugural-Diss. zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie (Deutschland), Aix-en-Provence / München 2014 [ungedruckt].

[2] Günther Kronenbitter: Friedrich von Gentz (1764-1832). In: Bernd Heidenreich (Hg.): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. I. Konservativismus, Liberalismus, Sozialismus, 2. Aufl., Berlin 2002, 93-108, hier: 94.

[3] Vgl. Gustav Schlesier (Hg.): Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal, 5. Teil, Mannheim 1840, ND Hildesheim / Zürich / New York 2002, 316-325.

[4] Zum "Constitutionnel" siehe jüngst Bernd Klesmann: Comptes rendus sur la Révolution française: l'historiographie française vue par les auteurs du Constitutionnel, in: Jean Claude Caron / Jean Philippe Luis (Hg.): Rien appris, rien oublié? Les Restaurations dans l'Europe postnapoléonienne (1815-1830), Rennes 2015, 131-141.

[5] Gentz an Franz von Ottenfels-Gschwind, Wien 14.-17.10.1829, zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/1863.html?l=de <15.01.2016>.

[6] Vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/home.html?l=de <18.01.2016>; siehe hierzu auch den Beitrag von Michael Rohrschneider sowie jüngst ders.: Friedrich von Gentz ‒ in digitalem Gewand. Eine neue Quellenpublikation zum "Sekretär Europas" im Jubiläumsjahr des Wiener Kongresses, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), 727-737.

[7] Vgl. hierzu das Editorial von Gudrun Gersmann.

[8] Vgl. Alexandra Nebelung: Von der Revolution zur Restauration: das Beispiel des Friedrich von Gentz, Bachelorarbeit Köln 2013; Christian Maiwald: Friedrich von Gentz und das Osmanische Reich. Studien zu Fremdwahrnehmungen und politischer Kommunikation (1826-1832), Masterarbeit Köln 2016 [in Vorbereitung].

Empfohlene Zitierweise
Michael Rohrschneider, Einführung: Friedrich von Gentz – ein 'intellektuelles' Leben im Brennpunkt der europäischen Metropolen, aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Einführung (Datum des letzten Besuchs).