Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit

Biographie und Publikationsgeschichte

Hanno Scheerer

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Die Reputation Thomas Jeffersons als Intellektueller rührt weniger aus seiner sozialen Funktion als öffentlicher Kommentator gesellschaftlicher Probleme denn aus seiner philosophischen Brillanz. Er ist der Autor des wichtigsten Schlüsseldokuments der amerikanischen Geschichte (Unabhängigkeitserklärung), des bedeutendsten amerikanischen Buches des achtzehnten Jahrhunderts ("Notes on the State of Virginia") und eines zentralen politischen Pamphlets, das die Radikalisierung der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung forcierte ("A Summary View of the Rights of British America"). In mehr als 19.000 Briefen nahm Jefferson zu gesellschaftlichen und politischen Themen Stellung und entwickelte Grundgedanken, die bis heute für die USA relevant sind. Ohne Zweifel war Jefferson Amerikas "Philosopher-King", wie eine Biographie leicht polemisch titelt. [1] Doch inwiefern war er auch ein Intellektueller im engeren Sinne, ein 'Virtuose der Öffentlichkeit', der über seine Publikationen die öffentliche Meinung zu manipulieren versuchte? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt sich zunächst ein kurzer Blick in Jeffersons Biographie und in die Publikationsgeschichte zweier seiner wichtigsten Veröffentlichungen, dem Pamphlet "A Summary View" und den "Notes on the State of Virginia".

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Jefferson war ein Kind der Aufklärung. Wie sein Biograph Merrill D. Peterson erklärt, waren die Grundannahmen der Aufklärung so tief in Jeffersons Denken verankert, dass er ohne sie nicht zu verstehen ist. [2] Isaac Newton, John Locke und Francis Bacon wurden zu seinen Helden, während er ab 1760 als Siebzehnjähriger am College of William and Mary unter dem Schotten William Small studierte. [3] Jefferson wurde zu einem belesenen Kenner aktueller wissenschaftlicher Diskussionen, breit interessiert an Geschichte, politischer Philosophie und den Naturwissenschaften. Obwohl die Zeit am College sehr prägend für Jefferson war, blieb er nur zwei Jahre dort. Anschließend ließ er sich zum Juristen ausbilden und war ab 1767 als Anwalt in Virginia zugelassen.

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1769 wurde Jefferson erstmals als Abgeordneter seines Heimatbezirks Albermarle in das koloniale Parlament Virginias gewählt. Über seine Motivation, auf kolonialer Ebene politisch tätig zu werden, ist nur wenig bekannt. [4] Als Angehöriger der Pflanzerelite und Gentry Virginias gehörte politisches Engagement für ihn wahrscheinlich zum Selbstverständnis. Obwohl Biographen ihn als eher schüchtern und introvertiert beschreiben, stieg der junge Jefferson schnell in die politische Elite der Kolonie auf, insbesondere durch seine familiären Verbindungen zur politisch und wirtschaftlich mächtigen Randolph-Familie. Als Politiker blieb Jefferson zunächst eher blass, doch 1774, mit der Veröffentlichung seines Pamphlets "A Summary View of the Rights of British America", wurde er zu einem der wichtigsten Vertreter des amerikanischen Patriotismus, der sich gegen die zunehmenden Besteuerungs- und Zentralisierungsbestrebungen aus Großbritannien wandte.

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Mit "A Summary View" trat Jefferson erstmals offensichtlich als eine Art 'Virtuose der Öffentlichkeit' auf, der allgemeine politische und gesellschaftliche Fragen diskutierte und durch seine geschickte Rhetorik die öffentliche Meinung beeinflusste. Tatsächlich war die Beeinflussung der öffentlichen Meinung jedoch nicht Jeffersons Ziel gewesen. "A Summary View" war von ihm in seiner Funktion als Abgeordneter verfasst worden, um die zum Kontinentalkongress entsandten Delegierten aus Virginia zu instruieren. Dass das Dokument dennoch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurde, lag an unbekannten Freunden Jeffersons, die es in Williamsburg anonym drucken ließen. In kurzer Zeit fand es seinen Weg nach Philadelphia und England und wurde in Zeitungen in New York und Boston abgedruckt. [5] Jefferson wurde als Urheber des Pamphlets schnell bekannt und gewann eine Reputation als "Autor und Patriot", die letztlich dazu führte, dass er 1776 vom Kontinentalkongress mit der Ausarbeitung der Unabhängigkeitserklärung beauftragt wurde. [6]

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Jefferson formulierte in seinem Traktat nicht nur eine Kritik an der unmittelbaren Politik des britischen Parlaments. Stattdessen legte er eine regelrechte Theorie des britischen Empires vor, das er sich als eine Art Commonwealth vorstellte, in dem die amerikanischen Kolonien nur über den König mit dem Mutterland verbunden waren. Basierend auf Naturrechtstheorien und einem spezifischen Verständnis der englischen Geschichte vertrat er die damals noch radikale Ansicht, dass das britische Parlament keinerlei Autorität über die Kolonien besaß und der britische Monarch nicht mehr als ein "chief officer of the people" sei, dessen gesetzlich bestimmten Rechte nur dem Ziel dienten, die Regierung im Sinne des Volkes aufrechtzuerhalten. [7] Für die Abgeordneten Virginias waren diese Positionen deutlich zu radikal, und so hatte Jeffersons Schrift keinen unmittelbaren Einfluss auf die Politik der Kolonien, doch das Pamphlet half dabei, die Revolutionsbewegung zu radikalisieren und weitere Schritte in Richtung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten einzuleiten. [8]

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Während "A Summary View" ebenso wie die 1776 von ihm verfasste Unabhängigkeitserklärung der USA politische Dokumente waren, machte Jefferson sich 1787 einen Namen als Philosoph und Wissenschaftler, der öffentlich über gesellschaftliche und naturwissenschaftliche Phänomene reflektierte. Ähnlich wie bei seinem politischen Pamphlet geschah dies zunächst in einem spezifischen Kontext und ohne Intention einer breiten Veröffentlichung. In seiner Funktion als Gouverneur des Staates Virginias hatte Jefferson 1780 eine Anfrage von François Marbois, Mitglied der französischen Gesandtschaft in den USA, erhalten. Marbois hatte einen Fragenkatalog verfasst und wollte genauere Informationen über die Geographie sowie die politische und soziale Organisation jedes Einzelstaates der USA erhalten. Ähnlich wie schon beim "Summary View" nutzte Jefferson einen konkreten Anlass, um über grundsätzliche Fragen zu philosophieren. Innerhalb einiger Jahre und durch verschiedene Überarbeitungen entstand ein mehrere hundert Seiten langes Manuskript, dessen Inhalt weit über die Fragen Marbois' hinausging.

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So ist ein Teil des Buches der Zurückweisung der These des Comte de Buffon gewidmet, der eine Degenerierung der Natur in Amerika vermutete. Marbois' Frage zum Stand der Entwicklung der Industrie, des Handels und des Im- und Exports Virginias nutzte Jefferson zu einem berühmt gewordenen Statement zur moralischen Überlegenheit unabhängiger Bauern gegenüber der Korruption abhängiger Lohnarbeiter und zu dem Aufruf, Amerika als Agrargesellschaft zu erhalten und die Industriestätten in Europa zu belassen, um die Tugendhaftigkeit der Bürger und somit die junge Republik zu schützen. Aus der Anfrage zur Staatsverfassung entwickelte Jefferson eine umfassende Kritik an der Verfassung Virginias, in der er die mangelnde Repräsentation der Bürger und die "despotische" Übermacht der Legislativkammer bemängelte. [9]

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Es waren jedoch seine Ausführungen über Rasse und die in Virginia praktizierte Form der Sklaverei, die bei Zeitgenossen und Historikern gleichermaßen kontroverse Diskussionen auslösten. Jefferson, selbst Sklavenhalter, zeichnete allgemein ein negatives Bild der Sklaverei. Sie sei nicht nur eine Verletzung der natürlichen Rechte der Sklaven, sondern habe auch einen negativen Einfluss auf die amerikanische Republik, da sie Sklavenhalter zu Mini-Despoten mache und somit die bürgerliche Tugendhaftigkeit als Basis der Republik zerstöre. Vor einer sofortigen Abschaffung der Sklaverei warnte Jefferson zugleich aber, da er aus seinen eigenen Beobachtungen eine inhärente Minderwertigkeit der 'schwarzen Rasse' ausmachte, die bei einer Vermischung der beiden Rassen zu einer Degeneration der weißen Sklavenhalter führen könne. Diese Mischung aus scheinbar ernstgemeintem Beklagen des Unrechts der Sklaverei und rassistischen Angstvorstellungen hat Jefferson den Ruf eines Heuchlers eingebracht und seine Reputation als Politiker und Philosoph zu Lebzeiten und nach seinem Tod nachhaltig beschädigt. [10]

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Insgesamt waren die "Notes" also eine massive Gesellschaftskritik. In seiner immer noch exzellenten Einleitung zur Ausgabe von 1955 erläutert der Herausgeber William Peden: "In the Notes on Virginia Jefferson at one time or another criticizes most of the vested interests of his time. He attacks the assumptions and usurpation of power by the rich, the powerful, and the well born; the tyranny of the church; the dogmas of the schoolmen; the bigotry of the man on horseback; the enslavement of man by man; the injustice of racial superiority”. [11]

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Als Jefferson seine Antworten an Marbois schickte, wurde ihm bewusst, dass er weit über die eigentlichen Fragen hinausgegangen war und ein Werk von grundsätzlicher philosophischer und wissenschaftlicher Relevanz geschaffen hatte. So sandte er 1781 eine Kopie an seinen Freund Charles Thomson, mit der Bitte, zu überprüfen, welche Abschnitte für die American Philosophical Society interessant sein könnten. [12] Thomson, Gründungsmitglied der Society, antwortete grundsätzlich interessiert, und Jefferson begann, zusätzliche Daten zu sammeln und weitere Freunde und Bekannte über sein Werk zu informieren. Zur breiteren Zirkulation innerhalb seines Freundeskreises wollte er 1784 wenige Exemplare in Philadelphia drucken lassen – ein Vorhaben, das zunächst an den Kosten scheiterte, 1785, als Jefferson Gesandter in Paris wurde, aber zu einem günstigeren Preis umgesetzt werden konnte. [13] Jefferson schickte Exemplare aus diesem ersten Druck an Vertraute und Bekannte in den USA und Europa, stets versehen mit dem Hinweis, dass das Buch nicht für das "öffentliche Auge" ("the public eye") vorgesehen sei und der Empfänger das Buch daher nur mit vertrauenswürdigen Personen teilen solle, um eine unautorisierte Publikation zu verhindern. [14]

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Trotz dieser Vorkehrungen gelangte ein Pariser Buchhändler an eine Kopie und plante eine Übersetzung ins Französische, die Jefferson in Ermangelung von Copyright-Gesetzen nicht verhindern, sondern nur durch einen von ihm autorisierten Übersetzer vornehmen lassen konnte. Dennoch entsprach des Resultat nicht Jeffersons Vorstellungen, und aufgrund der Befürchtung, dass in England eine Übersetzung der Übersetzung erscheinen könne, gab er das Originalmanuskript schließlich für eine Veröffentlichung in England frei. [15] Das Buch wurde auch in den USA breit rezipiert und ging alleine zu Jeffersons Lebzeiten durch 19 Auflagen. [16]

Anmerkungen

[1] Max Lerner: Thomas Jefferson: America's Philosopher-King, New Brunswick / New Jersey 2014.

[2] Vgl. Merrill D. Peterson: Thomas Jefferson and the New Nation. A Biography, London 1970, 47.

[3] Zur Bedeutung dieser drei Gelehrten für Jefferson siehe Thomas Jefferson an John Trumbull, 15. Februar 1789, in: Julian P. Boyd u.a. (Hg.): The Papers of Thomas Jefferson, Bd. 14, Princeton / New Jersey 1958, 561. Siehe auch Daryl Hale: Thomas Jefferson. Sublime or Sublimated Philosopher?, in: International Social Science Review 72 (1997) Nr. 3 / 4, 75-83, hier: 77.

[4] Die Forschung hat allgemein nur geringe Kenntnisse von Jeffersons frühen Jahren, da ein Feuer 1770 sämtliche seiner Papiere zerstörte.

[5] Siehe z.B. New York Journal; or, The General Advertiser, 27. Oktober 1774; The Massachusetts Spy, 3. November 1774.

[6] Vgl. Kevin J. Hayes: The Road to Monticello. The Life and Mind of Thomas Jefferson, Oxford 2008, 160.

[7] Thomas Jefferson: A Sumary View of the Rights of British America, in: Merril D. Peterson (Hg.): Thomas Jefferson. Writings, New York 1984, 105-122, hier: 105.

[8] Vgl. Peterson: Jefferson and the New Nation (wie Anm. 2), 71.

[9] Vgl. Thomas Jefferson: Notes on the State of Virginia, in: Peterson (Hg.), Writings (wie Anm. 7), 123-325. Siehe für eine umfassende Diskussion der "Notes on Virginia" David Tucker: Enlightened Republicanism. A Study of Jefferson's Notes on the State of Virginia, Lanham / Maryland 2008.

[10] Forscher wie Paul Finkelman gehen mit Jefferson hart ins Gericht und verurteilen ihn als extremen Rassisten und Heuchler. Paul Finkelman: Slavery and the Founders. Race and Liberty in the Age of Jefferson, Armonk / New York 1996. Eine differenzierte deutschsprachige Analyse von Jeffersons Position zur Sklaverei bietet Hannah Spahn: Thomas Jefferson und die Sklaverei. Verrat an der Aufklärung?, Berlin 2002.

[11] Thomas Jefferson: Notes on the State of Virginia. Edited and with an Introduction by William Peden, Chapel Hill / North Carolina 1955, xxiii.

[12] Vgl. Thomas Jefferson an Charles Thomson, 20. Dezember 1781, in: Boyd u.a. (Hg): Papers of Thomas Jefferson (wie Anm. 3), Bd. 6, Princeton /New Jersey 1952, 142f., hier: 142.

[13] Vgl. Thomas Jefferson: Autobiography, in: Peterson (Hg.): Writings (wie Anm. 7), 3-101, hier: 55.

[14] Vgl. Coolie Verner: Mr. Jefferson Distributes His Notes. A Preliminary Checklist of the First Edition, in: Bulletin of the New York Public Library, 56, Nr. 4 (April 1952), 159-186.

[15] Vgl. Thomas Jefferson an James Madison, 8. Februar 1786, in: Boyd u.a. (Hg.): Papers of Thomas Jefferson (wie Anm. 3), Bd. 9, Princeton / New Jersey 1974, 264-271, hier: 264f.

[16] Vgl. Collie Verner: A Further Checklist of the Separate Editions of Jefferson's Notes on the State of Virginia, Charlottesville / Virginia 1950.

Empfohlene Zitierweise
Hanno Scheerer, Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/5), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Biographie und Publikationsgeschichte (Datum des letzten Besuchs).