Die Revolution kehrt zurück – "Le Constitutionnel", die Pariser Presse und Friedrich von Gentz (1815-1830)

Gentz als publizistischer Gegner

Bernd Klesmann

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Hauptzielscheibe der Kritik am 'Absolutismus' waren die kontinentalen Siegermächte von 1814 / 15, allen voran Österreich. Einen recht zuverlässigen Einblick in die Auffassungen der Hauptbetreiber des "Constitutionnel" bietet schon ein biographischer Abriss über Gentz in der von Antoine-Vincent Arnault, Antoine Jay und Joseph Étienne de Jouy mitherausgegebenen "Biographie nouvelle des contemporains". [1] Gentz erscheint hier als talentierter und erfolgreicher Autor, der sich zwar weit von den liberalen Auffassungen seiner Anfänge entfernt habe, immerhin aber von der Redaktion des "Österreichischen Beobachters", wo man die patriotische Freiheitsbegeisterung der Jugend in Deutschland für Jakobinismus ausgebe, taktvoll zugunsten Pilats zurückgetreten sei. [2]

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Weniger wohlwollend liest sich ein späterer Artikel des "Constitutionnel", wo Gentz als direkter Inspirator des "Österreichischen Beobachters" erschien: "L'Observateur est l'ouvrage direct du chevalier Gentz, cet ancien organe de Pitt, le secrétaire perpétuel de tous les congrès. [...] Cette feuille, destinée à exprimer la pensée du ministère d'Autriche, devrait porter pour estampille: Cabinet du ministère. La pédagogie [hier abwertend: belehrende Attitüde], la fatuité, l'insolence du ton que prennent quelquefois ces écrivains subalternes, annoncent des gens qui tiennent de près au pouvoir. Cette feuille compose seule tous les alimens accordés à l'éducation politique de l'Autriche: aussi est-elle fort maigre; c'est le sort des peuples auxquels le ciel a réservé pour instituteurs les seules gazettes officielles." [3]

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Verortet wird das Blatt der Regierung Metternich in einem "système" fortschrittsfeindlicher Düsternis: "Or, c'est là précisément ce que veut l'Autriche: c'est le pays de l'Europe le plus impénétrable aux lumières; s'il était environné d'une muraille, on pourrait s'y croire à la Chine. [...] Faire croupir les hommes dans l'ignorance, pour qu'ils obéissent à l'aveugle; les tenir sequestrés de tout mouvement rationnel, endormir leur esprit, amortir leurs facultés; telles sont les bases de ce système. Il fut de tout temps celui de l'Autriche, il doit l'être encore plus après une révolution qui est le plus grand élan qu'ait pris l'esprit humain." [4]

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Die scharfe Kritik an der "Minerve", die Gentz im "Österreichischen Beobachter" [5] äußerte, galt einer Redaktion, der neben Benjamin Constant – von Gentz offenbar zu Unrecht als einflussreichster Stichwortgeber der "Minerve" identifiziert – auch Évariste Dumoulin, Charles-Guillaume Étienne, Antoine Jay, Joseph Étienne de Jouy und Pierre-François Tissot, also die Eigentümer des "Constitutionnel", angehörten. [6] Gentz verteidigte in seinem Artikel die Bilanz der Konferenz von Aachen und sah im Beitritt Frankreichs zur Heiligen Allianz ("zum heiligen Bunde") nicht nur keinen Widerspruch zur Quadrupelallianz von 1813 / 15, sondern im Gegenteil deren seit damals gewünschte Erweiterung und europäische Vollendung. Denn: "Mit dem Könige von Frankreich und mit der, nach ächten politischen Grundsätzen, von ihrem Monarchen unzertrennlichen französischen Nation in ungestörtem Frieden zu leben, war und ist der aufrichtige, lebhafte, bei jeder Gelegenheit laut ausgesprochene Wunsch der seit dem Jahre 1813 zum Wohl der Welt verbündeten Souverains." [7]

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Hatte hier also ein publizistisch-intellektuelles 'Virtuosentum' noch die individuelle Herkunft einflussreicher Diskussionsbeiträge verschleiert, lag im Fall des "Constitutionnel" die erwartbare Gegnerschaft offen zu Tage: Ein weiterer Gentzscher Artikel im "Österreichischen Beobachter" [8] verteidigte die Ausweisung italienischer Oppositioneller aus der Schweiz und erging sich in Angriffen gegen Autoren und Geist des "Constitutionnel", wo die entsprechenden Maßnahmen kritisiert worden waren: zwar sei eine Apologie der Revolution "bei den bekannten Grundsätzen dieses Journals" wenig verwunderlich, [9] doch verdiene die staats- und völkerrechtliche Begrifflichkeit der Argumentation der "Revolutionsadvokaten", [10] so Gentz, entschiedenen Widerspruch. Aktive Betreiber politischen Umsturzes seien eine reale Gefahr für jeden Staat und könnten somit keine Duldung beanspruchen. Wie ein fernes Echo aus den Schriften Edmund Burkes liest sich an dieser Stelle Gentz' Angriff auf die Autoren des "Constitutionnel" und "die Schriftsteller einer Parthei, die, im Gebiet der Wahrheit und Wirklichkeit allenthalben geschlagen, nur in abgenutzten Sophismen, und schlecht erdichteten Fabeln noch ihr Heil sucht". [11]

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Die vergleichsweise freie Pressepublizistik Frankreichs und ihre frühliberalen Exponenten waren den Bestrebungen des Wiener Legitimismus völlig entgegengesetzt. Gerade im "Constitutionnel" fanden unter dem Eindruck außenpolitischer Zurücksetzung seit 1815 sehr verschiedene Strömungen zusammen und konnten ihre Auffassungen tagesaktuell und überaus erfolgreich verbreiten. Wie sehr gerade Presse und Tagespublizistik hingegen den Unwillen des konservativen Staatsmannes erregen konnten, wird in zahllosen Äußerungen Gentz' deutlich: im Zuge kulturpessimistischer Betrachtungen über Frankreichs politische Literatur- und Zeitungslandschaft verortete Gentz auch seine eigene Umgebung "in einer Zeit, wo sich alles Lesen ohnehin auf ein flüchtiges Duchblättern des Neuesten beschränkt". [12] Und doch hatte der brillante Publizist und ehemalige Befürworter der Pressefreiheit schon wenige Monate nach dem Ende des Wiener Kongresses, nunmehr auf die kleinteiligen Mühen des Tagesgeschäfts beschränkt, von der Gewohnheit politischer Gespräche gesagt, sie seien: "mon premier besoin intellectuel". [13]

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Die Gegenüberstellung der publizistischen Aktivität des Friedrich von Gentz mit ausgewählten Stimmen der Presse des französischen Frühliberalismus ergibt somit einen ambivalenten Befund: einerseits offenbaren wechselseitige Bezugnahmen und thematische Überschneidungen der verhandelten Zukunftsfragen die Existenz eines intakten europäischen Kommunikationszusammenhangs über das im engeren Sinn diplomatische Milieu hinaus; andererseits weisen fundamentale Divergenzen in der Bewertung politischer Entwicklungen nicht nur auf die Verfestigung eines Antagonismus konservativer versus protodemokratischer Kräfte voraus, sondern zugleich auch auf die Permanenz machtpolitischer Spannungen zwischen Paris und Wien, die Europa bis ins 20. Jahrhundert hinein prägen sollten.
 

Anmerkungen

[1] Vgl. den Artikel "Gentz (Frédéric)", in: Biographie nouvelle des contemporains, ou Dictionnaire historique et raisonné de tous les hommes qui, depuis la révolution française, ont acquis de la célébrité [...], Bd. 8, Garre-Gyl, Paris 1822, 61-64.

[2] Biographie nouvelle (wie Anm. 1), Bd. 8, 64: "Cette feuille paraît destinée à réformer l'esprit public, à changer la tendance du siècle, et à faire triompher la doctrine d'un pouvoir suprème qui n'a de compte à rendre de son exercice qu'à Dieu seul. Mais M. Gentz est trop habile pour attacher son nom à des articles où l'enthousiasme de la jeunesse allemande pour la cause de la liberté et de la patrie, sentiment si éloquemment provoqué par M. Gentz même, est maintenant traité de jacobinisme; articles où tous les antiques privilèges de la féodalité sont défendus, où les améliorations solennellement promises sont repoussées, où enfin les hommes les plus estimables sont traités de niveleurs factieux et de révolutionnaires."

[3] "Le Constitutionnel", Sonntag 22.2.1824, 1.

[4] "Le Constitutionnel", Sonntag 22.2.1824, 1 [Hervorhebung im Original].

[5] Vgl. "Österreichischer Beobachter", Nr. 30, Samstag 30.1.1819, 3-6; Friedrich von Gentz: Gegen die Beurtheilung des Kongresses von Aachen in der französischen Minerva, in: Gustav Schlesier (Hg.): Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal, 3. Teil, Mannheim 1839, ND Hildesheim / Zürich / New York 2002, 75-87.

[6] Vgl. Eugène Hatin: Bibliographie historique et critique de la presse périodique française [...], Paris 1866, 342f.

[7] Gentz: Gegen die Beurtheilung (wie Anm. 5), 85. Die in der "Minerve" erschienenen "Lettres de Francfort" hielt er offenbar für dilettantische Fiktionen. Unentschieden über die Autorschaft äußerte sich auch Éphraïm Harpaz: L'école libérale sous la Restauration: le 'Mercure' et la 'Minerve' 1817-1820, Genf 1968, 26f.

[8] Vgl. "Österreichischer Beobachter", Nr. 36, Donnerstag 5.2.1824, 3-7; Friedrich von Gentz: Ueber Asyle. Gegen einen Artikel des Constitutionnel, in: Schlesier (Hg.): Schriften (wie Anm. 5), 3. Teil, 260-272.

[9] Gentz: Ueber Asyle (wie Anm. 8), 261f.

[10] Gentz: Ueber Asyle (wie Anm. 8), 270.

[11] Gentz: Ueber Asyle (wie Anm. 8), 271.

[12] Friedrich von Gentz: Ueber de Pradt's Gemälde von Europa nach dem Kongreß von Aachen [überaus kritische Besprechung von Dominique Dufour De Pradt: L'Europe après le Congrès d'Aix-la-Chapelle, faisant suite au Congrès de Vienne, Paris 1819; erstmals erschienen im Frühjahr 1819], in: Schlesier (Hg.): Schriften (wie Anm. 5), 3. Teil, 88-156, hier: 92.

[13] Gentz an Paul Anton Fürst Esterházy von Galántha, Wien 15. Januar 1816, zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/5345.html?l=de <05.01.2016>.

Empfohlene Zitierweise
Bernd Klesmann, Die Revolution kehrt zurück – "Le Constitutionnel", die Pariser Presse und Friedrich von Gentz (1815-1830) (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/3), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Gentz als publizistischer Gegner (Datum des letzten Besuchs).