Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit
Die anglo-amerikanische Forschung
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Der von de Tocqueville festgestellte Pragmatismus der amerikanischen Gesellschaft zeigt sich auch in der heutigen anglo-amerikanischen Forschung zu Intellektuellen. Während Definitionsfragen in der europäischen Literatur breit diskutiert werden, beschäftigen sich amerikanische Wissenschaftler oft mit Intellektuellen, ohne den Begriff genauer zu bestimmen. Paradigmatisch für diesen Ansatz steht Russell Jacobys zeitgeschichtliche Studie zum Untergang des Intellektuellen, in der er anmerkt: "I will employ, but not exhaustively define, various categories-bohemia, intellectuals, generations, cultural life. Too many definitions, too much caution, kill thought".
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Eine derartig radikale Ablehnungshaltung gegenüber Definitionen ist natürlich selbst im anglo-amerikanischen Raum selten. Doch insbesondere die in der europäischen Forschung derzeit geführte theoretische Debatte über die retrospektive Anwendbarkeit des Begriffs des Intellektuellen auf die frühe Neuzeit und die "Sattelzeit" findet in den USA kaum Resonanz.
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Allgemein steht der Begriff des Intellektuellen - in der anglo-amerikanischen Forschung, meist mit dem Adjektiv 'public' versehen - für den modernen Intellektuellentypus, wie er seit 1898 im Nachgang der Dreyfus-Affäre besteht.
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Der Politikerwissenschaftler Arthur M. Melzer nimmt weitere Abgrenzungen des Begriffs vor und legt somit eine enge Definition des Intellektuellen zugrunde. Neben den oben genannten Unterschieden zum Gelehrten und zum Experten sei der 'public intellectual' auch vom religiösen Propheten zu unterscheiden, denn Intellektuelle beschäftigten sich grundsätzlich mit säkularen Themen. Zudem unterscheide sich der moderne Intellektuelle vom Philosophen der klassischen Antike, da sich der Philosoph vollständig von der Gesellschaft loslöse, während der Intellektuelle zwar häufig ein Außenseiter und Eigenbrötler sei, aber stets das Ziel verfolge, die Gesellschaft zu kommentieren und zu verbessern. Der Intellektuelle zeichne sich demnach durch ein "detached attachment" aus, da er gleichzeitig als Beobachter außerhalb der Gesellschaft stehe, aber doch Teil von ihr sei und sie zu verändern suche. Insofern seien Politiker auch keine Intellektuellen, denn Intellektuelle wären als Querdenker niemals Teil des Establishments, da direkte politische Involvierung ihre Denkfreiheit einschränken würde. In Anbetracht dieser engen Definition versteht Melzer den Intellektuellen als ein dezidiert modernes Phänomen, das erst durch die Entstehung einer Öffentlichkeit und einer modernen Staatlichkeit zutage kommen konnte.
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Diese in der amerikanischen Historiographie weit verbreitete enge Definition des Intellektuellen macht eine Anwendung auf die Denker der amerikanischen Revolutionszeit problematisch. Zweifelsohne war die amerikanische Revolution, wie Merrill D. Peterson es formuliert, sowohl ein intellektuelles als auch ein politisches Ereignis, und die Gründungsväter waren nicht nur die ausführenden Politiker der Revolte gegen Großbritannien, sondern auch ihre intellektuellen Köpfe.
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Wie im Folgenden anhand von Thomas Jefferson gezeigt wird, war diese einzigartige Situation für die amerikanischen Politiker-Intellektuellen der Zeit extrem problembehaftet und alles andere als "happy". Die Schwierigkeit für die Politiker-Intellektuellen lag in ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung begründet. Aufgewachsen und politisch geschult im kolonialen Amerika, erlebte (und forcierte) diese Generation einen enormen gesellschaftlichen und politischen Wandel, im Zuge dessen eine Öffentlichkeit im modernen Sinne entstand - eine Öffentlichkeit, die nicht nur interessiertes Publikum, sondern auch potenzielle Wähler darstellte, und die von Printmedien mit Informationen und Meinungen versorgt wurde. Thomas Jefferson hatte ein ambivalentes Verhältnis zu dieser modernen Öffentlichkeit. Er entwickelte eine spezifische Vorstellung über die mögliche Einflussnahme auf die öffentliche Meinung, die bereits Anzeichen der späteren Interpretation der amerikanischen Gesellschaft von de Tocqueville beinhaltete. So wurde Jefferson zu einem spezifischen Typus des Intellektuellen, der so nur zur "Sattelzeit" in Nordamerika auftrat.
Anmerkungen
Empfohlene Zitierweise
Hanno Scheerer, Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/5), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Die anglo-amerikanische Forschung (Datum des letzten Besuchs).