Intellektuellenkommunikation als Forschungsfeld

Einleitung

Friedrich Jaeger

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Der Begriff des 'Virtuosen' im Titel dieses Sammelwerks verdankt sich einer Anspielung auf Max Webers Werk "Wirtschaft und Gesellschaft", wo sich im Abschnitt zur Religionssoziologie sowohl Ausführungen zum "religiösen Virtuosentum" [1] als auch zur "Prägung der Religionen durch Intellektuellenschichten" [2] finden. Weber qualifiziert religiöse Virtuosen dort als eine, wie er sagt, "Aristokratie der religiös Qualifizierten", die sich im Kontext ihrer Zeit kraft einer speziellen Virtuosenethik als soziale Gruppe konstituieren: "Ebenso wie die magisch qualifizierten Zauberer, so bildeten daher die ihre Erlösung methodisch erarbeitenden religiösen Virtuosen überall einen besonderen religiösen 'Stand' innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen, dem oft auch das spezifische jeden Standes, eine besondere soziale Ehre, innerhalb ihres Kreises zukam." [3]

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Weber stellt ferner eine enge Beziehung zwischen religiösen Virtuosen und Intellektuellen her, indem er die Prägung von Religionen durch Intellektuellenschichten als ein allgemeines Merkmal der Religionsentwicklung begreift. Überraschend unbefangen verfährt Weber dabei mit dem Begriff des Intellektuellen, dem er unter der Hand eine universalgeschichtliche Qualität verleiht, indem er altorientalische Priester, die Sänger der homerischen Antike und hinduistische Brahmanen ebenso dazu zählt wie jüdische Rabbiner oder katholische Mönche der europäischen Neuzeit. Und die Kategorie, die diese unterschiedlichen sozialen Figuren allesamt intellektuell vereint, ist bei Weber die Sinnkategorie: "Der Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik ins Unendliche geht, seiner Lebensführung einen durchgehenden 'Sinn' zu verleihen, also 'Einheit' mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem Kosmos. Er ist es, der die Konzeption der 'Welt' als eines 'Sinn'-Problems vollzieht. Je mehr der Intellektualismus den Glauben an die Magie zurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt 'entzaubert' werden, ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch 'sind' und 'geschehen', aber nicht mehr 'bedeuten', desto dringlicher erwächst die Forderung an die Welt und 'Lebensführung' je als Ganzes, daß sie bedeutungshaft und 'sinnvoll' geordnet seien." [4]

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Der Bezug auf Weber und sein Verständnis des religiösen Virtuosentums soll hier jedoch nicht überstrapaziert werden, auch wenn die sozialen Praktiken intellektueller Sinnkommunikation gerade in neueren Forschungsansätzen zur Gelehrtenkultur eine prominente Rolle spielen. [5] Die Idee ist vielmehr, mit dem Begriff des intellektuellen Virtuosentums in Anknüpfung an Weber einen praxeologischen Ansatz zu skizzieren, der dasjenige in den Blick rückt, was Intellektuelle jeweils in ihrer Zeit auf unverwechselbare und einzigartige – und insofern eben 'virtuose' Weise praktisch tun: nämlich auf dem Boden einer ausgefeilten und kompetenten Mediennutzung im öffentlichen Raum zu kommunizieren, Kritik zu üben und im agonalen Streit der Argumente Konflikte auszutragen.

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Derzeit ist die gesellschaftliche Rolle der Intellektuellen tiefgreifenden Veränderungen unterworfen, die in der Ausbreitung neuer sozialer Medien und digitaler Wissensdiskurse begründet sind. [6] Sie werfen die Frage auf, auf welche Weise die neuen Medien die Rolle von Intellektuellen im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung verändern und ob sie sich in diesen zukünftig noch behaupten können. [7] Gelingt es den Intellektuellen, sich weiterhin als zeitsensible Interpreten herausfordernder Probleme zu etablieren, oder aber mindert die mediale Struktur der Blogs und Foren die Chancen ihrer Einflussnahme? Macht sich in den neuen Plattformen digitaler Kommunikation vielleicht sogar ein Anti-Intellektualismus breit, der den Anspruch der Intellektuellen, unverzichtbare Agenten der Wissenskommunikation und der politischen Reflexion zu sein, als ein überlebtes geistesaristokratisches Erbe infrage stellt? – Dies zumindest diagnostiziert Adam Soboczynski in einem ZEIT-Artikel vom 22. Mai 2009: "Jedoch als der, der er [der Intellektuelle] bislang war, Störenfried des Konsenses, Vermittler von Wissensbeständen, Korrektiv des Staats, wird er verschwinden. Seine Spur ist eine, die bald schon Wellen glätten." [8] Befürchtet wird, dass sich mit dem Verschwinden der Intellektuellen die öffentliche Auseinandersetzung der Bürger über normative Fragen ihrer Lebensführung abschwächen wird, so dass auch Tony Judt noch kurz vor seinem Tod im Jahre 2010 die "Rückkehr des politischen Intellektuellen" gefordert hat, um dem kritisch-reflexiven Umgang moderner Gesellschaften mit sich selbst neuen Schwung zu geben. [9]

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Ausgehend von solchen aktuellen Herausforderungen stellen sich neue historische Fragen an die Geschichte der Intellektuellen. – Das lateinische Wort intellectualitas verwies ursprünglich ganz allgemein auf die Fähigkeit, etwas geistig zu begreifen und kulturell zu deuten, wobei die dafür erforderlichen Kompetenzen bereits in vormodernen Gesellschaften in besonderem Maße den Gelehrten und den spezifischen Modi ihrer Gelehrsamkeit zugesprochen worden sind. [10]

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Der Durchbruch des Wortes 'Intellektueller' zu einem Kampfbegriff des öffentlichen Lebens erfolgte zwar bekanntlich erst im Kontext der Dreyfus-Affäre mit dem am 14. Januar 1898 publizierten "Manifest der Intellektuellen", das unmittelbar auf Zolas offenen Brief "J'accuse" reagierte, jedoch spricht dies nicht unbedingt gegen die Verwendung des Begriffs auf vormoderne Gesellschaften. [11] Denn zu den Einsichten der historischen Semantik gehört, dass Begriff und Sache, die Geschichte der Begriffe und die Begriffe der Geschichte nicht notwendig zusammenfallen. [12] Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob es Intellektuelle der Sache nach – also etwa im Hinblick auf die Existenz eines tendenziell autonomen und 'interesselosen', in Distanz zur politischen Macht stehenden intellektuellen Feldes im Sinne Bourdieus bereits vorher gegeben hat. [13]

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Wenn hier eine vorsichtig positive Antwort auf diese Frage gegeben wird, so geschieht dies nicht in der Absicht, den Begriff des Intellektuellen anderen Epochen und Kulturen unhistorisch überzustülpen und damit die Gelehrten vormoderner Gesellschaften in die Zwangsjacke einer modernen Intellektuellenterminologie zu stecken. Vielmehr gilt es, zu einem historisch-komparativen Forschungsansatz zu gelangen, der es gestattet, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen modernen Intellektuellen und vormodernen Gelehrten, aber auch zwischen den Intellektuellen westlichen Typs und ihren Entsprechungen in nicht-westlichen Kulturen herauszuarbeiten.

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Drei Gesichtspunkte erscheinen dabei aus der Perspektive des hier dargelegten Forschungsansatzes von besonderer Bedeutung. [14] Sie betreffen erstens die herausgehobene Rolle der Intellektuellen in den Prozessen öffentlicher Meinungsbildung und die von ihnen betriebene Applikation von Wissen auf Praxis; zweitens betreffen sie ihre besondere Fähigkeit zur Mediennutzung sowie ihren innovativen Umgang mit neuen Kommunikationsnetzen; drittens schließlich betreffen sie die Entwicklung einer transnationalen Intellektuellenkommunikation, in der sich jenseits des 'westlichen' Intellektuellen andere Formen von Intellektualität etablieren und in globale Transferbeziehungen zueinander treten.

Anmerkungen

[1] Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie‚ 5. Aufl., Tübingen 1976, 327ff.

[2] Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 1), 304-309.

[3] Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 1), 327.

[4] Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 1), 307f.

[5] Dies gilt etwa für Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006.

[6] Vgl. Klaus Plake / Daniel Jansen / Birgit Schuhmacher: Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit im Internet. Politische Potentiale der Medienentwicklung, Wiesbaden 2001; Patrick Rössler: Online-Kommunikation, in: Günter Bentele / Hans-Bernd Brosius / Otfried Jarren (Hg.): Öffentliche Kommunikation. Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaften, Wiesbaden 2003, 504-522. – Zur Transformation der gegenwärtigen Wissenskultur durch das Internet Daniela Pscheida: Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert, Bielefeld 2010.

[7] Den Verlust dieses öffentlichen Intellektuellen im Rahmen des modernen Universitäts- und Wissenschaftssystems beklagte zuletzt Bernhard Pörksen: Wo seid ihr, Professoren?, in: DIE ZEIT, Nr. 31 / 2015.

[8] Adam Soboczynski: Das Netz als Feind. Warum der Intellektuelle im Internet mit Hass verfolgt wird, in: DIE ZEIT, Nr. 22 / 2009. – Zu der sich in diesem neuen Milieu der Weblogs und Foren vollziehenden "heimlichen Medienrevolution" Erik Möller: Die heimliche Medienrevolution. Wie Weblogs, Wikis und freie Software die Welt verändern, 2. Aufl., Hannover 2006. – Zum Wandel politischer Kommunikation in der Mediengesellschaft auch Otfried Jarren / Patrick Donges: Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft, 2 Bde., Wiesbaden 2002; Winfried Schulz: Politische Kommunikation, in: Bentele / Brosius / Jarren (Hg.): Kommunikation (wie Anm. 6), 458-480.

[9] Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2010. – Zur gegenwärtigen Rolle der 'public intellectuals' jetzt auch Theodore J. Lowi: Public Intellectuals and the Public Interest. Toward a Politics of Political Science as a Calling, in: Political Science and Politics 43 (2010), 675-681.

[10] Zur Semantik des Intellektuellen Dietz Bering: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978; ders.: Die Epoche der Intellektuellen: 1898-2001. Geburt – Begriff – Grabmal, Berlin 2010; ders.: "Intellektueller": Schimpfwort – Diskursbegriff – Grabmal?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010), Ausgabe 40 vom 4.10.2010, 5-12. – Aus der umfangreichen Forschungsliteratur der vergangenen Jahre exemplarisch: François Beilecke / Katja Marmetschke (Hg.): Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Martin Bock, Kassel 2005; Alf Lüdtke / Reiner Prass (Hg.): Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2008 (dort die Einleitung der Herausgeber mit der Aufarbeitung neuerer Literatur, 1-29); Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006; Christophe Charle: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997; Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2007; dies.: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007; Jutta Held (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, München 2002; Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914, München 1998; Walter Prigge (Hg.): Städtische Intellektuelle. Urbane Milieus im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992; Daniel Morat: Intellektuelle und Intellektuellengeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 20.11.2011, http://docupedia.de/zg/Intellektuelle_und_Intellektuellengeschichte?oldid=106435 <07.10.2015>. – Zur Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit auch Füssel: Gelehrtenkultur (wie Anm. 5); ders.: Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft. Neue Forschungen zur Kultur des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34 (2007), 273-289; Helmut Zedelmaier / Martin Mulsow (Hg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Tübingen 2001.

[11] Zur Frage der Anwendbarkeit des Intellektuellenbegriffs auf die Vormoderne hier nur Luise Schorn-Schütte (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, Berlin 2010; Isabella von Treskow: Geschichte der Intellektuellen in der Frühen Neuzeit. Standpunkte und Perspektiven der Forschung, in: ebd., 15-32; Paul Zanker: Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, München 1995; Jacques LeGoff: Die Intellektuellen im Mittelalter, Stuttgart 1986 [französisches Original 1957]; Held (Hg.): Intellektuelle (wie Anm. 10); Hans Rudolf Velten: Die Autodidakten. Zum Aufkommen eines wissenschaftlichen Diskurses über Intellektuelle gegen Ende des 17. Jahrhunderts, in: ebd., 55-81; Richard van Dülmen / Sina Rauschenbach (Hg.): Denkwelten um 1700. Zehn intellektuelle Profile, Köln 2002. – Zur "Geburt des neuzeitlichen Intellektuellen" im Zeichen des Humanismus auch Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert, Köln 2003, hier: 272.

[12] Vgl. Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2006, 58-70.

[13] Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 1999; Marian Füssel: Intellektuelle Felder. Zu den Differenzen von Bourdieus Wissenssoziologie und der Konstellationsforschung, in: Martin Mulsow / Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005, 188-206.

[14] Eine anders angelegte Typologie "intellektueller Operationen" findet sich bei Jürgen Fohrmann: Der Intellektuelle, die Zirkulation, die Wissenschaft und die Monumentalisierung, in: ders. (Hg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien / Köln / Weimar 2005, 323-479, hier: 329-333; sowie bei Uwe Justus Wenzel (Hg.): Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Frankfurt am Main 2002.

Empfohlene Zitierweise
Friedrich Jaeger, Intellektuellenkommunikation als Forschungsfeld (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/1), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Einleitung (Datum des letzten Besuchs).