'Digitale Intellektuelle': Ego-Dokumente und Selbstzeugnisse in digitalen Datenbanken

Zur Forschungsdebatte

Rebecca van Koert

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Der Begriff 'Ego-Dokument' entstammt ursprünglich der niederländischen Forschung und wurde in den 1950er Jahren von Jacques Presser als 'egodocumenten' geprägt. Presser sieht vor allem die fortwährende Präsenz des Schreibenden im Text als Charakteristikum für Ego-Dokumente an, während der Literaturwissenschaftler Rudolf Dekker, der den Begriff etwa dreißig Jahre später aufgriff, diesen um das Sprechen über Gedanken und Gefühle, die den Schreibenden beschäftigen, ergänzt. [1] Bei beiden wird jedoch der selbstreflektierende Charakter der Texte deutlich, was laut Andreas Rutz die niederländischen 'egodocumenten' den deutschen Selbstzeugnissen ähnlich macht. [2] Trotzdem entscheidet sich Winfried Schulze ganz bewusst gegen den Begriff 'Selbstzeugnis', zum einen weil er ihn als recht engen Begriff versteht, sodass Selbstzeugnisse seiner breiter angelegten Auffassung der Quellengruppe nicht mehr entspricht, und zum anderen weil der Begriff bereits lange für diese relativ eng, aber dennoch nicht klar definierte Quellengruppe im Gebrauch ist. Der Begriff sei also bereits zu einseitig mit autobiographisch ausgerichteten Textquellen assoziiert, als dass ein präziser und zufriedenstellender Umgang mit ihm möglich wäre. [3] Ähnliche Begriffe anderer Sprachen entsprechen Schulzes Konzept von Ego-Dokumenten noch weniger. Die englischen 'documents of life' beziehen sich lediglich auf alle Quellen, aus denen ein Leben rekonstruierbar wird. Damit erweitern sie zwar die Quellen um nichttextliche Zeugnisse, verengen den Blick aber auch auf Biographien, wobei der selbstreflektierende Aspekt sogar ganz außen vor bleibt. Die französische 'égo-histoire' beschreibt sogar lediglich die Autobiographien von Historikern, in denen sie sich als solche wahrnehmen und beschreiben. Die niederländischen 'egodocumenten' kommen Schulzes Vorstellung da noch am nächsten. [4]

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Schulze ist es wichtig, bei einer Definition des Begriffs über autobiographische Texte hinauszugehen, denn diese seien erstens sehr stilisiert, da sie häufig nach literarischen Vorlagen verfasst sind, zweitens offenbarten sie nicht unbedingt persönliche Gedanken und Gefühle des Schreibenden, sondern vielmehr die Wahrnehmung seiner Rolle in der Gesellschaft, und drittens schlösse eine Begrenzung auf autobiographische Texte illiterate Bevölkerungsschichten aus. [5]

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Nach diesen Vorüberlegungen kommt Schulze zu folgender Definition von 'Ego-Dokument': "Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, dass Aussagen oder Aussagenpartikel vorliegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten individuell-menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände belegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln." [6]

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Diese Definition ergänzt Pressers und auch Dekkers Konzepte vor allem um die nicht-intentional gemachten Äußerungen bzw. die "erzwungene Selbstwahrnehmung". Schulze ermöglicht mit diesem Konzept, dass eine breitere Quellenbasis geschaffen werden kann, sodass zum Beispiel auch Verhörprotokolle miteinbezogen werden können. Rutz vermutet andererseits gerade in dieser breiten Quellenbasis und der daraus resultierenden Generalisierung den Grund dafür, dass der Begriff bisher weniger aufgegriffen wurde als der des 'Selbstzeugnisses', obwohl in Schulzes Definition auch illiterate Bevölkerungsschichten miteinbezogen werden können. [7]

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Des Weiteren – hier geht Schulze selbst auf einen möglichen Einwand gegen seine Definition ein – stelle das Konzept intentional und nicht-intentional gemachte Aussagen auf eine Stufe und verschleiere damit den Entstehungskontext der Aussagen. [8] Genau an dieser Stelle liegt jedoch noch ein weiterer Kritikpunkt an Schulzes Konzept von Ego-Dokumenten – die explizite Miteinbeziehung unfreiwillig gemachter Aussagen über das Selbst, denn die Unterscheidung zwischen 'freiwillig' und 'unfreiwillig' gemachten bzw. erzwungenen Aussagen ist irreführend. Schulze bezieht sich hier vor allem auf Zeugenaussagen, die erstens unter Zwang gemacht und zweitens von Dritten verschriftlicht und damit möglicherweise verändert wurden. Hier müssen aber auch solche 'unfreiwilligen' Aussagen mitberücksichtigt werden, die der Schreibende über sich selbst trifft, ohne es beabsichtigt zu haben, also die Kategorie der 'unbewussten' Selbstaussagen. Damit rückt die Unterscheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Selbstaussagen aber in die Nähe des Droysenschen Dualismus 'Überrest' und 'Tradition', der jedoch für Ego-Dokumente viel zu kurz greift. [9] Auch muss beachtet werden, dass keineswegs nur textliche Darstellungen Selbstaussagen enthalten, sodass eine freiere Quellensystematik angebracht wäre.

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Um sich von einer starren Quellensystematik zu lösen und damit die Aussagemöglichkeiten der Quellen an sich auszuschöpfen, schlägt Volker Depkat vor, jede Quelle und ihre Selbstthematisierung für sich zu betrachten, da jeder Schreibende in einem individuellen biographisch-historischen Kontext gesehen werden müsse. Depkat erachtet die Selbstthematisierung einer Person vor allem als kommunikativen Akt, der mehrere Funktionen erfüllt und bei dem der Schreibende und sein Rezipient miteinander in eine Beziehung treten, die untersucht werden müsse. [10] Der Notwendigkeit der Aufhebung einer zu starren und überholten Quelleneinteilung kann nicht widersprochen werden, zumal, wie auch Sabine Schmolinsky betont, es durchaus auch Quellen gibt, die nur streckenweise selbstreferentiell sind, die also in den meisten Einteilungen einer Sondergruppe zugeordnet werden müssten. [11] Eine vollständige Loslösung des Sprechens über Ego-Dokumente von einer theoretischen Quellensystematik wäre aber ebenso ein Rückschritt, denn dies würde einen vollkommen uneinheitlichen Gebrauch des Begriffs begünstigen und ihn damit dem gleichen Schicksal aussetzen wie die Selbstzeugnisse. Trotzdem erscheint der kommunikationspragmatische Ansatz von Volker Depkat durchaus gerechtfertigt, denn untersucht man die kommunikative Situation, in der eine Selbstaussage entstanden ist, kann man auch Schulzes breite Quellenbasis (zum Beispiel Gerichtsakten und Verhörprotokolle) durchaus miteinbeziehen.

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Schulzes Unbehagen in Bezug auf den Begriff 'Selbstzeugnis' ergibt sich, wie oben bereits dargestellt, vor allem aus der Tatsache, dass der Begriff häufig, so auch von Schulze selbst, recht eng gefasst wird und vor allem autobiographische Texte einschließt, was ihn dem Konzept des 'Ego-Dokuments' unterlegen macht. [12] Dekker bemängelt vor allem den uneinheitlichen Gebrauch des Begriffs. Benigna von Krusenstjern greift dies auf und erklärt Dekkers Einwand damit, dass es lange auch keine Definition des Begriffs 'Selbstzeugnis' gegeben bzw. dass man es immer dabei belassen habe, den Begriff anhand einer Aufzählung der eingeschlossenen Quellenarten zu definieren. [13] Im Gegensatz zu vielen anderen Stimmen sieht sie aber im Begriff 'Selbstzeugnis' keine Konkurrenz zu dem des 'Ego-Dokuments', sondern plädiert vielmehr dafür, Selbstzeugnisse als Untergruppe der Ego-Dokumente zu betrachten. [14] Auch sie sieht als ausschlaggebendes Kriterium dafür, eine Quelle als Selbstzeugnis zu klassifizieren, die Selbstthematisierung an. Ihr ist aber wichtig, dass sich der Autor ganz bewusst über sich selbst äußert. "Um ein Selbstzeugnis handelt es sich also dann, wenn die Selbstthematisierung durch ein explizites Selbst geschieht […]. Die Person des Verfassers bzw. der Verfasserin tritt in ihrem Text selbst handelnd oder leidend in Erscheinung oder nimmt darin explizit auf sich selbst Bezug." [15] Darüber hinaus betont sie, dass ein Selbstzeugnis aus eigener Motivation heraus entstanden sein muss. [16] Damit erweitert sie den Begriff über die bloßen autobiographischen Darstellungen hinaus auf alle Selbstaussagen, begrenzt ihn aber zugleich auf explizite Selbstdarstellungen.

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Wie Schmolinsky sieht auch von Krusenstjern die Notwendigkeit, unterschiedliche Grade der Selbstthematisierung zu beachten und stellt aus diesem Grund je nach Quantität der Selbstthematisierung vier Kategorien vor, die fließend ineinander übergehen und in weitere Untergruppen unterteilt werden können. Selbstzeugnisse des Typs A sind 'egozentrische' Selbstzeugnisse, in denen der Schreibende sich selbst in den alleinigen Fokus der Darstellung rückt. Hier wären vor allem autobiographische Texte einzuordnen. In Typ B berichtet zwar der Schreibende über sich selbst und die eigenen Gedanken und Gefühle, aber auch über die Umwelt. Ab Typ C beginnt das Verhältnis von 'Welt' und 'selbst' sich umzukehren, denn hier überwiegen die Beschreibungen der Lebenswelt. In Typ D ist das Selbst schließlich nur noch gelegentlich zu erkennen, wie zum Beispiel bei Familien- oder Stadtchroniken. Diese Kategorien sind für von Krusenstjern keineswegs in sich geschlossen, zum einen weil viele Selbstzeugnisse nicht eindeutig einer Kategorie zugeteilt werden können, zum anderen weil die schreibende Person im Laufe der Darstellung ihre Rolle verändern kann und die Quelle damit zwischen den Kategorien wechselt. [17]

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Darüber hinaus will von Krusenstjern aber auch betonen, dass die äußere Form der Quelle nicht unbedingt ein eindeutiges Kriterium für ihre Qualität als Selbstzeugnis ist. Sie bemerkt, dass es durchaus Reiseberichte oder Briefe gibt, die zwar der äußeren Form nach ohne weiteres zu Selbstzeugnissen gezählt werden könnten, die aber bei näherem Betrachten nur latente Selbstaussagen enthalten und somit in die Kategorie der Ego-Dokumente gehören, nicht aber zu den Selbstzeugnissen. Ebenso können Rechnungsbücher, die auf den ersten Blick keine explizite Selbstaussage enthalten, Selbstzeugnisse sein, wenn sie zum Beispiel mit Randnotizen versehen sind, die das eigene Handeln rechtfertigen. [18]

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An die oben bereits formulierte Feststellung, dass die meisten Ego-Dokumente von Personen aus der literaten Oberschicht stammen, schließt sich eine weitere an: Der Großteil der Ego-Dokumente stammt von Autoren, die nicht nur des Lesens und Schreibens mächtig waren, sondern darüber hinaus auch regelmäßig schrieben und das aufgrund ihrer Schreibausbildung zum Teil auch recht stilisiert. [19] Raphaela Averkorn beschreibt in diesem Zusammenhang eine weitere Eigenschaft von Ego-Dokumenten: Jede bewusste Selbstaussage wird in Bezug auf einen Rezipienten gemacht. Das heißt, dass jede bewusste Selbstaussage auch eine Art der Selbstinszenierung ist, bei der sich der Urheber der Aussage eine Maske aufsetzt. Der Rezipient, der die Selbstaussage liest, macht sich vom Urheber ein ganz bestimmtes Bild, setzt ihm oder ihr also eine weitere Maske auf. Dies ist auch der Fall bei unbewusst gemachten Selbstaussagen, denn auch dann muss der Rezipient die Äußerungen eines Textes einordnen, was nur funktioniert, wenn er sich ein Bild des Urhebers macht. [20] Ähnlich wie Volker Depkat sieht auch Raphaela Averkorn Selbstaussagen – egal ob bewusst oder unbewusst gemacht – als kommunikative Situationen an. Besonders im Zusammenhang mit den Briefen, bei denen der Rezipient der schreibenden Person bekannt war, ist dieser Ansatz lohnenswert, wie später näher zu erläutern sein wird. Für den Umgang mit Ego-Dokumenten bedeutet dies, dass die Funktion, die der Urheber der Aussage innehat, bzw. die, welche er durch diese übernimmt, immer Gegenstand der Untersuchungen sein müssen. [21]

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Abschließend bleibt also festzuhalten, dass auf quellensystematischer Ebene sowohl der Gebrauch von 'Selbstzeugnis' als auch von 'Ego-Dokument' durchaus gerechtfertigt und sogar fruchtbar ist, da beide Begriffe sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich sogar sinnvoll ergänzen, wie Benigna von Krusenstjern gezeigt hat. Welche formalen Eigenschaften jeweils das Quellenkorpus einer Untersuchung bestimmen, ist pauschal nicht zu beantworten, sondern richtet sich eben nach den konkreten Fragestellungen einer Arbeit. Die Einbeziehung oder der Ausschluss bestimmter Quellen sollte deswegen nicht nach formalen, sondern nach inhaltlichen Kriterien erfolgen. Für den Umgang mit Ego-Dokumenten hat Eckart Henning einen Fragenkatalog erarbeitet, der die oben genannten Punkte ergänzt. [22] Henning fragt zunächst nach dem Entstehungszeitraum bzw. der Entstehungsdauer eines Ego-Dokuments, da sich hieraus auf den Grad der nachträglichen Überarbeitung schließen lässt. Eng damit zusammen hängt die Frage nach dem Motiv des Verfassers und der zeitlichen Differenz zum Erlebten, der daraus folgenden bewussten oder unbewussten Verfälschung des Erlebten sowie nach einer geplanten Veröffentlichung bzw. dem angesprochenen Rezipienten. Dieser Fragenkomplex bezieht sich gleichzeitig auch auf das Bild der Masken, das Raphaela Averkorn einführt, und auf von Krusenstjerns Frage nach der Beziehung zwischen aussagender Person und Rezipienten. Hier wird also der kommunikative Aspekt der Ego-Dokumente berücksichtigt. Weiterhin ist auch zu überlegen, woher die Niederschrift einer ursprünglich mündlich gemachten Aussage stammt und wer aus welchem Grund eine Sammlung von Ego-Dokumenten kompiliert – Fragen, die noch einmal verdeutlichen, dass Ego-Dokumente nie nur eine einzige Person zum Sprechen kommen lassen, sondern immer vielschichtige Quellen für zwischenmenschliche Beziehungen sind.

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Nach diesen theoretischen Überlegungen zu Ego-Dokumenten soll nun abschließend noch auf einige praktische Punkte eingegangen werden. Zunächst einmal liegt das Potenzial der Ego-Dokumente darin, dass sie einen direkten Einblick in das alltägliche Leben geben können. Für Richard von Dülmen zeigen Ego-Dokumente in diesem Sinne vor allem das individuelle Umgehen mit äußeren Rahmenbedingungen des Lebens auf. Genau das ist es, was seiner Meinung nach Menschen gleichermaßen zu "Gegenstand und 'Trägern' von Geschichte macht". [23] An dieser Stelle muss jedoch auch davor gewarnt werden, Ego-Dokumente darauf zu reduzieren, Indikatoren für größere Entwicklungen zu sein, denn auch wenn Selbstaussagen illiterater Bevölkerungsschichten mit eingeschlossen werden können, sind diese doch in der Unterzahl. Deshalb können Ego-Dokumente nicht repräsentativ sein, wenn sie zum Beispiel die Umsetzung von gesellschaftlichen Normen überprüfen sollen, [24] sondern können nur Auskunft über die individuelle Reaktion auf Normen oder Veränderungen der Umwelt geben. Durch Ego-Dokumente ist daher die Möglichkeit gegeben, vereinfachende und verallgemeinernde Mechanismen zur Darstellung größerer Strukturen und Entwicklungen aufzudecken und auf ihre Validität hin zu überprüfen.

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Wenn Ego-Dokumente also darüber Auskunft geben, wie ein Individuum sich selbst im Zusammenhang mit seiner (veränderten) Umwelt wahrnimmt, liegt eigentlich auf der Hand, die Ego-Dokumenten-Forschung mit der Intellektuellengeschichte zu verknüpfen, tritt der Intellektuelle doch gerade in Zeiten politischer und sozialer Umbrüche in Erscheinung. Hierfür ist es jedoch notwendig, den Begriff des 'Intellektuellen' kurz zu betrachten. Einen bedeutenden Zeitpunkt in der Entwicklung des modernen 'Intellektuellen' stellt die Veröffentlichung von Émile Zolas Artikel "J'Accuse...!" am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung "L'Aurore" dar. Als 'Geburtsstunde' des Intellektuellen ist dieses Datum aber keineswegs unangefochten, was schlicht darin begründet ist, dass ebenso wenig ein Konsens über die Entstehung des Intellektuellen wie überhaupt über die Definition des Typus besteht. [25] Anklang gefunden hat die Trennung zwischen einem weit und einem eng gefassten Intellektuellenbegriff, wie sie zum Beispiel von Isabella von Treskow vorgenommen wird. [26] Der weite Begriff umfasst alle geistig Tätigen und Kulturschaffenden verschiedener Berufs- und Wissenschaftsgruppen und ist damit nahezu gleichbedeutend mit einer Reihe weiterer Begriffe wie 'Gelehrte' oder 'geistige Elite' einer Kultur. Eine Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit findet daher auch in vielen Studien, die sich des weiten Intellektuellenbegriffs bedienen, gar nicht erst statt. [27] Der eng gefasste Begriff wird insbesondere auf Individuen bezogen, die sich unabhängig von Institutionen kritisch und vor allem öffentlichkeitswirksam mit bestehenden sozialen und politischen Verhältnissen auseinandersetzen. [28] Besonders Jutta Held betont die Fähigkeit eines Intellektuellen, sich geistig aus der eigenen Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen herauszulösen, sich nur dem eigenen Gewissen verpflichtet zu fühlen und so seine Handlungen in den Dienst des gesellschaftlichen oder politischen Umbruchs zu stellen. [29]

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Für die Frühe Neuzeit stellt sich allerdings die Frage, wie ein politisch motiviertes Hineinwirken in die Gesellschaft ausgesehen haben mag. Für Held sind Intellektuelle der Frühen Neuzeit Akteure innerhalb der Gesellschaft, die durch ihre Vorbildung und ihre Fähigkeit, über sich und die Umwelt zu reflektieren, dazu in der Lage sind, Traditionen und bestehende Verhältnisse vor dem Hintergrund von veränderten Rahmenbedingungen zu hinterfragen und neu zu bewerten. [30] Letztlich fördern sie dadurch auch die Anpassung der Gesellschaft an neue Bedingungen nach Umbruchsituationen. Als ein Beispiel dienen Held Konversionserzählungen von Theologen, die sich nach der Reformation und im Zuge des Dreißigjährigen Krieges mit der Vereinbarkeit zweier Konfessionen auseinandersetzen.

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Für andere Autoren ist das Hauptproblem bei der Übertragung des 'modernen' Intellektuellenbegriffs auf die Frühe Neuzeit jedoch, dass sowohl die moderne Öffentlichkeit als auch die Möglichkeit eigenständiger Meinungsbildung und Äußerung von politischer Kritik in der Frühen Neuzeit fehlen. Die Öffentlichkeitswirksamkeit kann also für den Intellektuellen der Frühen Neuzeit nur bedingt relevant sein. [31] Darüber hinaus sei auch die Unabhängigkeit von der eigenen sozialen Gruppe in der Frühen Neuzeit nicht gegeben, die für die Moderne häufig als konstitutiv angesehen wird. Trotzdem halten diese Autoren am Begriff des Intellektuellen für die Frühe Neuzeit fest. Ausschlaggebend sei, dass er sich innerhalb seiner Abhängigkeitsverhältnisse und angestammten Tätigkeit Handlungsräume erarbeite. [32] Aufgabe der Intellektuellenforschung zur Frühen Neuzeit muss es daher sein, die jeweiligen Kommunikationsbedingungen der Akteure zu analysieren und ihre Strategien der Einflussnahme aufzudecken.
 

Anmerkungen

[1] Vgl. Jacques Presser: Memoires als geschiedbron (1958), in: Maarten Brands / Jan Haak (Hg.): Uit het werk van Dr. J. Presser, Amsterdam 1969, 277-282, hier: 278; Rudolf Dekker: Egodocumenten. Een literatuuroverzicht, in: Tijdschrift voor geschiedenis 101 (1988), 161-189, hier: 161. Die nachfolgenden Ausführungen basieren in Teilen auf der Schriftlichen Hausarbeit der Verfasserin im Rahmen der Ersten Staatsprüfung "Ego-Dokumente in der Frühen Neuzeit: Das Beispiel der Briefe von Magdalena und Balthasar Paumgartner", die 2014 an der Universität zu Köln eingereicht wurde; vgl. hierzu jüngst auch folgende Zusammenfassung: Rebecca Knoben: "Mir hats aber alein an dir gemangelt"– Die Ehe von Balthasar und Magdalena Paumgartner in ihren Briefen, in: Blätter für Fränkische Familienkunde 38 (2015), 153-188.

[2] Vgl. Andreas Rutz: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002) Nr. 2 [20.12.2002], http://www.zeitenblicke.de/2002/02/rutz/ <24.09.2015>, hier: Abs. 3.

[3] Vgl. Winfried Schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung "Ego-Dokumente", in: ders. (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Beiträge einer Konferenz über "Ego-Dokumente" vom 4.-6. Juni 1992 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, 11-32, hier: 21.

[4] Vgl. Schulze: Ego-Dokumente (wie Anm. 3), 14f.; vgl. auch Sabine Schmolinsky: Selbstzeugnisse im Mittelalter, in: Klaus Arnold / Sabine Schmolinsky / Urs Martin Zahnd (Hg.): Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (= Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit 1), Bochum 1999, 19-28, hier: 21f., dort auch zum 'document personnel'.

[5] Vgl. Schulze: Ego-Dokumente (wie Anm. 3), 23-26.

[6] Schulze: Ego-Dokumente (wie Anm. 3), 28.

[7] Vgl. Rutz: Ego-Dokument (wie Anm. 2), Abs. 4; vgl. auch Schmolinsky: Selbstzeugnisse (wie Anm. 4), 23f.; dies.: Selbstzeugnisse finden oder: Zur Überlieferung erinnerter Erfahrung im Mittelalter, in: Rudolf Suntrup / Jan Veenstra (Hg.): Self-fashioning: Personen(selbst)darstellung (= Medieval to Early Modern Culture 3), Bern 2003, 23-52, hier: 32. Schmolinsky bemängelt an Schulzes Konzept vor allem, dass es Quellen einschließt, die mit einem relativ geringen selbstreferentiellen Anteil nur ein fragmentarisches Bild auf die Selbstwahrnehmung einer Person werfen.

[8] Vgl. Schulze: Ego-Dokumente (wie Anm. 3), 23f.

[9] Vgl. Volker Depkat: Ego-Dokumente als quellenkundliches Problem, in: Marcus Stumpf (Hg.): Die Biographie in der Stadt- und Regionalgeschichte (= Westfälische Quellen und Archivpublikationen 26; Beiträge zur Geschichte Iserlohns 23), Münster 2011, 21-32, hier: 27.

[10] Vgl. Depkat: Ego-Dokumente (wie Anm. 9), 30f.; vgl. dazu auch: Schmolinsky: Selbstzeugnisse (wie Anm. 4), 21.

[11] Vgl. Schmolinsky: Selbstzeugnisse (wie Anm. 4), 27. Schmolinsky schlägt hier vor, die Begriffe "eingeschobenes Selbstzeugnis" und "nicht selbständiges Selbstzeugnis" einzuführen. Diese Begriffe verkomplizieren aber nur zusätzlich, denn hier schlösse sich unmittelbar ein praktisches Problem an: Erstens hängt die Definition von "nicht selbständigen Selbstzeugnissen" korrelativ von der Definition "selbständiger Selbstzeugnisse" ab, was angesichts der uneinheitlichen Verwendung des Begriffs 'Selbstzeugnis' schon problematisch genug wäre, und zweitens müsste man bestimmen, ab wann eine Selbstaussage nicht mehr als 'selbständig' betrachtet wird. Dies würde kurzum dazu führen, eine problematische Quelleneinteilung schlicht gegen eine andere auszutauschen.

[12] Vgl. Rutz: Ego-Dokument (wie Anm. 2), Abs. 5; zuletzt auch sichtbar in der Überblicksdarstellung von Eckart Henning, der Selbstzeugnisse in Tagebücher und Lebensgeschichten unterteilt, Lebensgeschichten wiederum in Autobiographien und Memoiren. Briefe zählen überhaupt nur bedingt zu Selbstzeugnissen. Ausschlaggebend sind für ihn tatsächlich autobiographische Elemente; vgl. Eckart Henning: Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik, Berlin 2012, hier: 18-21. Sabine Schmolinsky spricht sich ebenfalls für eine Ausweitung des Begriffs aus und definiert ihn wie folgt: "Selbstzeugnis ist eine Quelle mit selbstreferentiellem Bezug. Das bedeutet, dass zwischen Urheber(in) und Hauptgegenstand der Quelle Identität besteht, also eine Selbstthematisierung vorliegt." Schmolinsky: Selbstzeugnisse (wie Anm. 4), 25. Damit geht sie einerseits über die rein autobiographischen Texte hinaus, zumal sie später die Äußerung über persönliche Haltungen, Gefühle und Meinungen über die Umwelt miteinbezieht (ebd., 23f.), aber andererseits beschränkt sie damit das Quellenkorpus auch auf solche Quellen, die ein hohes Maß an bewusster Selbstreflexion enthalten, obwohl sie sich eigentlich von der Reflexion über das Ich als Konstituens für Selbstzeugnisse distanzieren will; vgl. ebd., 31.

[13] Vgl. Dekker: Egodocumenten (wie Anm. 1), 161; Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 2 (1994), 462-471, hier: 462f., 469.

[14] Vgl. von Krusenstjern: Selbstzeugnisse (wie Anm. 13), 469f.

[15] Von Krusenstjern: Selbstzeugnisse (wie Anm. 13), 463.

[16] Vgl. von Krusenstjern: Selbstzeugnisse (wie Anm. 13), 470.

[17] Vgl. von Krusenstjern: Selbstzeugnisse (wie Anm. 13), 464ff.

[18] Vgl. von Krusenstjern: Selbstzeugnisse (wie Anm. 13), 463.

[19] Vgl. Anette Völker-Rasor: "Arbeitsam, obgleich etwas verschlafen ...". Die Autobiographie des 16. Jahrhunderts als Ego-Dokument, in: Schulze (Hg.): Ego-Dokumente (wie Anm. 3), 107-120, hier 108ff.; Mathias Beer: Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1400-1550) (= Schriftenreihe des Stadtarchivs Nürnberg 44), Neustadt an der Aisch 1990, 28ff.

[20] Vgl. Raphaela Averkorn: Schreiben als Methode der Krisen- und Problembewältigung. Untersuchungen zu kastilischen 'Ego-Dokumenten' des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Heinz-Dieter Heimann / dies. (Hg.): Kommunikation mit dem Ich. Signaturen der Selbstzeugnisforschung an europäischen Beispielen des 12. bis 16. Jahrhunderts (= Europa in der Geschichte 7), Bochum 2004, 53-98, hier: 53f.; Fabian Brändle u.a.: Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung, in: Kaspar von Greyerz / Hans Medick / Patrice Veit (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500 -1850) (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 9), Köln / Weimar / Wien 2001, 3-31; zu Selbstaussagen als Masken auch Rutz: Ego-Dokument (wie Anm. 2), Abs. 14.

[21] Vgl. von Krusenstjern: Selbstzeugnisse (wie Anm. 13), 464.

[22] Vgl. Henning: Selbstzeugnisse (wie Anm. 12), 39f. Zwar bezieht sich Henning hier auf Selbstzeugnisse, aber seine Überlegungen sind an dieser Stelle durchaus auch auf Ego-Dokumente übertragbar.

[23] Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben (= UTB Geschichte 2254), 2. Aufl., Köln / Weimar / Wien 2001, 40.

[24] Mathias Beer weist an dieser Stelle jedoch auch völlig zu Recht darauf hin, dass es gerade diese Oberschicht ist, die maßgebliche Impulse zu gesellschaftlichen Entwicklungen gibt, vor deren Hintergrund Ego-Dokumente betrachtet werden müssen, um den individuellen Umgang mit solchen Entwicklungen zu untersuchen: Beer: Eltern (wie Anm. 19), 32f.

[25] Hierzu näher: Isabella von Treskow: Geschichte der Intellektuellen in der Frühen Neuzeit. Standpunkte und Perspektiven der Forschung, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 38), Berlin 2010, 15-32, hier: 16f.

[26] Vgl. von Treskow: Geschichte (wie Anm. 25).

[27] So beispielsweise auch nicht bei Richard van Dülmen (Hg.): Denkwelten um 1700. Zehn intellektuelle Profile, Köln 2002. Nichtsdestotrotz bietet der Sammelband eine eindrucksvolle Übersicht über verschiedene Methoden der Rezeption der eigenen Lebenswelt bei Menschen mit durchweg hohem Bildungsniveau, aber völlig unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern.

[28] Siehe vor allem von Treskow: Geschichte (wie Anm. 25), 19f.

[29] Vgl. Jutta Held: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, in: dies. (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, München 2002, 9-17, hier: 9f.

[30] Vgl. Held: Intellektuelle (wie Anm. 29), 11f.; ähnlich auch Rainer Bayreuther u.a.: Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre. Eine Einleitung, in: ders. u.a.: Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre (= Wolfenbütteler Forschungen 125), Wiesbaden 2011, 9-32, hier: 11.

[31] Vgl. Bayreuther u.a.: Kritik (wie Anm. 30), 13; siehe auch das Nachwort im selben Sammelband: Bayreuther u.a.: Nachwort, in: ders. u.a. (Hg.): Kritik (wie Anm. 30), 381-391, hier: 388.

[32] Vgl. Bayreuther u.a.: Nachwort (wie Anm. 31), 384f.

Empfohlene Zitierweise
Rebecca van Koert, 'Digitale Intellektuelle': Ego-Dokumente und Selbstzeugnisse in digitalen Datenbanken (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/8), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Zur Forschungsdebatte (Datum des letzten Besuchs).