Berliner 'Intellektuelle' um 1800. Eine kontroverse Kategorie und ihre Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter

Die preußische Hauptstadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Anne Baillot

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Der Intellektuelle lässt sich dadurch charakterisieren, dass er in öffentlichen Debatten das Wort ergreift, wozu er sich aufgrund seiner sozialen Position als Gelehrter oder Künstler berufen bzw. verpflichtet fühlt. Die Art und Weise, wie diese im weitesten Sinne politischen Meinungen zum Ausdruck kommen, kann stark variieren. Festzuhalten ist, dass bestimmte historische Kontexte besonders günstige Konstellationen für solche Positionierungen bieten.

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Eine günstige Konstellation stellte die Situation in Berlin um 1800, mehr noch um 1810 dar. [1] Die soziale Grundstruktur des intellektuellen Austauschs war bereits seit der Aufklärung etabliert, wenn auch in sich weiterentwickelnden Formen. [2] Die aufklärerische Geselligkeit in weitestgehend geschlossenen gelehrten Kreisen war den Salons gewichen, die um den Jahrhundertwechsel die ausschlaggebende Geselligkeitsform geworden waren; [3] dazu kamen dann, in voller Blüte in den 1820er Jahren, die Vereine. [4] Eine (relative) soziale Mischung etablierte sich auf der Grundlage eines neuartigen Bildungsanspruchs.

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Darüber hinaus war die Hauptstadt ein sozialer Schmelztiegel, in dem Hofleute, Beamte wie etwa das ministeriale Personal, Geschäftsleute, aber auch niedrigere Schichten in geographischer Nähe zueinander lebten und es nicht vermeiden konnten, miteinander in Kontakt zu kommen. [5] Als 1809 die Universität gegründet wurde, wurden Studenten und Dozenten erstmalig auf deutschsprachigem Gebiet in die urbane Gesellschaft integriert, anstatt isoliert zu leben. [6] Ausschlaggebend war hier nicht nur die Entscheidung, die Universität in die Hauptstadt zu holen, sondern auch der Beschluss, die Gebäude nicht an den Stadtrand zu versetzen. Vielmehr wurden sie in der Mitte der Stadt verortet. Die neuen intellektuellen Räume, die sich dadurch öffneten, wurden sogleich in Anspruch genommen und genutzt. In den Vorlesungen, in den offiziellen Reden zum Königsgeburtstag, die an der Universität vom Professor für Beredsamkeit gehalten wurden, in den Auseinandersetzungen mit Formen des gelehrten und sozialen 'Fleißes' bahnten sich unterschiedliche Formen des Patriotismus einen Weg. [7] Die Königliche Bibliothek wurde von Studenten und Bürgern gleichermaßen genutzt, die mit den Bedürfnissen der jeweils anderen rechnen mussten. So entstand ein sozialer Mischraum, der sich selbst als Klangraum der politischen Aktualität verstand.

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Dieser Raum bestand aber nicht nur im Aufeinandertreffen, sondern entfaltete sich auch in Druckform. Die Druckwelt war an der Entwicklung von Austauschmöglichkeiten aktiv beteiligt. Zeitschriften waren zwar eine äußerst volatile Gattung mit einer zum Teil sehr kurzen Lebensdauer, dennoch verfügten solche Organe – so auch Zeitungen – über ein breites Lesepublikum. [8] Sie verbreiteten politische Nachrichten, [9] Vorlesungsverzeichnisse oder Gedichte auf den König. [10] Eine Schlüsselrolle spielten dabei die Verleger: Dümmler, [11] Reimer, [12] Hitzig hatten 'ihre' Hausautoren, Wissenschaftler und Schriftsteller gleichermaßen. Bei geselligen Abenden bei sich zu Hause, bei Picknicks im Lustgarten führten sie diese zusammen.

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Der Handlungsspielraum der Verleger war kein rein kaufmännischer. Zum einen gaben sie gelegentlich bestimmte Themen oder Übersetzungen in Auftrag bzw. waren selbst als Autoren tätig. Damit konnten sie die öffentlichkeitsrelevanten Themenfelder selbst oder zumindest mitbestimmen. [13] Zum anderen gestalteten Verleger in ihrer Lektorenfunktion die Texte der Autoren mit, die sie auf den Markt brachten. Während einige dieser Korrekturen primär der Leserlichkeit zu dienen hatten (bei der Vereinheitlichung der Schreibweise bestimmter Wörter oder überhaupt bei der Korrektur von Entwürfen solcher Autoren wie Chamisso, die eine sehr fehlerhafte Rechtschreibung hatten), können andere Verbesserungen als viel bedeutendere Eingriffe in den Text betrachtet werden. Diese konnten sowohl stilistischer als auch inhaltlicher Art sein, und schließlich waren diese Formen der Einflussnahme auch mit – diesmal tatsächlich kaufmännischen - Maßnahmen verbunden, etwa Werbung oder gezielt in Auftrag gegebenen Rezensionen. [14]

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Die Berliner Verleger waren unter sich vernetzt, Verleger und Autoren teilweise familiär verbunden. [15] Neben diesen de facto-Verwandtschaften waren auch gelehrte Genealogien sehr prägend: Verleger wie Hochschullehrer hinterließen Spuren ihres Habitus auf einer oder sogar mehreren Generationen von Nachfolgern. [16] Eine ganze Reihe solcher Verflechtungen ging weit über lose Bekanntschaften hinaus und hatte zur Folge, dass man immer auf Leute traf, die man gut kannte, ob in Person oder durch Lektüre. Das vertraute Personennetz im Bildungsbürgertum bzw. in allen gebildeten sozialen Schichten (auch der Adel muss dazugerechnet werden) war außergewöhnlich dicht, insbesondere in der Kohabitation von Politik und Gelehrsamkeit. Diese Dichte der intellektuellen Netzwerke innerhalb des Berliner Raums in der Zeit um 1810 erlaubte es, dass sich unterschiedliche Diskursebenen nebeneinander entfalten konnten: Persönliche Briefe, die weitergegeben wurden; Zeitschriften, die Persönliches wiedergaben; Bücher voller Anspielungen auf Politisches und auf Privates etc. Diese Diskursebenen waren nicht immer harmonisch, sie konnten sich womöglich widersprechen. Aber sie lagen einem öffentlichen Rauschen zugrunde, das eine Produktions- und Wahrnehmungsbereitschaft solcher Texte (Texte hier im allgemeinen Sinne) [17] signalisierte. Vor dem Hintergrund dieses Rauschens konnten sich stärkere Diskurse wie diejenigen eines Fichte, Schleiermacher oder Hegel nicht nur abheben, sondern auch durch die prinzipielle Wahrnehmungsbereitschaft und durch das Vorhandensein von einschlägigen Foren an öffentlicher Konsistenz und Resonanz gewinnen.

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Die Arbeit der Nachwuchsforschergruppe "Berliner Intellektuelle 1800-1830" [18] bestand zwischen 2010 und 2015 darin, dieses Rauschen zu erforschen. Zum einen ging es damit um ein historisches Korrektiv. Es galt zu zeigen, dass es nicht vereinzelte Intellektuelle gab, sondern ein Intellektuellenmilieu, in dem das von der Historiographie tradierte Verhältnis zwischen 'großen' und 'kleinen' historischen Akteuren überdacht werden soll. [19] Zum anderen stellte sich ebenfalls die Frage, worin dieses Rauschen genau bestand. Unter dem Dachbegriff der 'Veröffentlichungsstrategien' wurde diese Frage erörtert. Dabei galt es, die unterschiedlichen Manifestationen intellektueller Positionierungen zu identifizieren und miteinander zu vergleichen. Methodisch gesehen war der Vergleich unerlässlich, um bestimmte Phänomene nicht überzubewerten, die tatsächlich nicht spezifisch für einen Autor oder einen Kontext waren, sondern weit verbreitet und daher nicht singulär aussagekräftig bzw. zumindest nicht entscheidend sind.

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Diese methodische Voraussetzung der Vergleichsstellung hatte ebenfalls zur Folge, dass, obwohl Berlin und die Zeit um 1810 im Mittelpunkt standen, auch die Zeit davor und die Zeit danach bzw. auch andere Fokusorte in Betracht gezogen werden sollten. Der Diversität der Diskurse und Medien musste ebenfalls komparatistisch Rechnung getragen werden. Die Entscheidung, zur Veröffentlichung bestimmte Texte in den Blick zu nehmen, war eine pragmatische: Textzeugen über Zusammenkünfte oder mündlichen Austausch lassen sich nicht ohne methodische Einschränkungen auswerten. Ihre Repräsentativität ist meist aufgrund der Lückenhaftigkeit ihrer Überlieferung schwer zu belegen.

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Um 1800 spielten aber auch unfertige Diskursformen wie Entwürfe eine zentrale Rolle. So wurde im Rahmen des Forschungsvorhabens insbesondere untersucht, welche Veränderungen zu unterschiedlichen Entstehungszeitpunkten vorgenommen wurden: Welchen Einfluss auf die Textentstehung nahm der erste Leserkreis (oft die Freunde), dann der Verleger, zusätzlich zu den eigenständig vom Autor erarbeiteten Ver- bzw. Entschärfungsmechanismen? An welchen Korpora sich solche Strategien erforschen lassen, wird im nächsten Teil dargelegt.

Anmerkungen

[1] Überlegungen aus den Einleitungen zu den zwei Bänden Anne Baillot (Hg.): Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800, Berlin 2011 und dies. / Ayse Yuva (Hg.): France-Allemagne. Figures de l'intellectuel entre révolution et réaction 1780-1848, Lille / Villeneuve d'Ascq 2014, finden sich in den folgenden Ausführungen wieder.

[2] Vgl. Conrad Wiedemann: Geleitwort, in: Uta Motschmann: Schule des Geistes, des Geschmacks und der Geselligkeit. Die Gesellschaft der Freunde der Humanität (1797-1861), Hannover 2010.

[3] Vgl. Petra Wilhelmy-Dollinger: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780-1914), Berlin u.a. 1989.

[4] Vgl. Motschmann: Schule des Geistes (wie Anm. 2).

[5] Vgl. Theodor Ziolkowski: Berlin: Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810, Stuttgart 2006.

[6] Vgl. Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden 1810-2010, Bd. 1: ders. / Charles E. McClelland u.a.: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin 1810-1918, Berlin 2012, insbesondere 325-379.

[7] Zu den Vorlesungen als Ort der politischen Positionierung vgl. Anne Baillot: Wie rehabilitiert man einen Schriftsteller und wozu? Das Beispiel unerschlossener Briefwechsel aus dem Umfeld des Dichters Ludwig Tieck, des Philosophen Karl Solger und des Historikers Friedrich von Raumer, in: Françoise Lartillot / Axel Gellhaus (Hg.): Dokument / Monument. Textvarianz in den verschiedenen Disziplinen der europäischen Germanistik. Akten des 38. Kongresses des französischen Hochschulgermanistikverbandes A.G.E.S., Bern u.a. 2007, 103-126; zu den Königsgeburtstagsreden vgl. Thomas Poiss: August Boeckh als Universitätspolitiker, in: Baillot: Netzwerke des Wissens (wie Anm. 1), 85-112; zum Fleiß vgl. im Rahmen von Boeckhs Philologischen Seminar die Verteilung der Prämien an die Schüler, erläutert in Sabine Seifert: August Boeckh und die Gründung des Berliner philologischen Seminars. Wissenschaftlerausbildung und Beziehungen zum Ministerium, in: Christiane Hackel / Sabine Seifert (Hg.): August Boeckh. Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik, Berlin 2013, 159-178.

[8] Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, München 1987, 186-256.

[9] So etwa Kleists "Abendblätter", bereits in den 1930er Jahren von Helmut Sembdner gründlich erforscht; vgl. Helmut Sembdner: Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion, Särchen 1939.

[10] Zwei Beispiele dafür arbeiten Thomas Poiss (Poiss: Boeckh (wie Anm. 7), insbesondere 102f.) und Ralf Klausnitzer (Ralf Klausnitzer: Bildung in Briefen. Epistolare Kommunikation und Wissenstransfer in / zwischen Generationen, in: Selma Jahnke / Sylvie Le Moël (Hg.): Briefe um 1800. Zur Medialität von Generation, Berlin 2015, 43-84, insbesondere 80-83) heraus.

[11] Die Geschichte dieses Verlags wurde bereits früh von der Forschung in den Blick genommen, allerdings mehr im Sinne einer auf Archivmaterialien basierenden Untersuchung und nicht einer historiographisch breit angelegten Studie; vgl. Adalbert Brauer: Dümmler-Chronik, Bonn u.a. 1958.

[12] Die neuere Studie von der Reimer-Enkelin Doris Reimer zeugt von der heute nach wie vor lebendigen Prägnanz des genealogischen Selbstverständnisses in Verlegerfamilien; vgl. Doris Reimer: Passion und Kalkül: Der Verleger Georg Andreas Reimer (1776-1842), Berlin 1999.

[13] Dass Hitzig zielgerichtet an der Übersetzung von Madame de Staëls "De l'Allemagne" anhand des zum damaligen Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten französischen Originals arbeitete, damit die deutsche Version zeitgleich mit der französischen erscheinen konnte, ist ein einleuchtendes Beispiel dafür; vgl. Anna Busch: Paris in Berlin? Aspekte französisch-deutscher Kulturbeziehungen bei Julius Eduard Hitzig, in: dies. / Nana Hengelhaupt / Alix Winter (Hg.): Französisch-deutsche Kulturräume um 1800. Bildungsnetzwerke – Vermittlerpersönlichkeiten – Wissenstransfer, Berlin 2012, 129-150, hier: 132-137.

[14] Die Bedeutung der Präsenz eines Verlegers im öffentlichen Diskurs hat Anna Busch in ihrer Dissertation am Beispiel von Eduard Hitzig auf musterhafte Weise dargelegt; vgl. Anna Busch: Hitzig und Berlin. Zur Organisation von Literatur (1800-1840), Hannover 2014.

[15] Vgl. am Beispiel von Campe Edda Ziegler: Julius Campe, der Verleger Heinrich Heines, Hamburg 1976.

[16] Zu den Ausprägungen des generationellen Denkens in der Romantikergeneration vgl. die Einleitung von Selma Jahnke, in: dies. / Le Moël (Hg.): Briefe (wie Anm. 10), 11-26.

[17] Zur Definition von Text, die hier gemeint ist, vgl. David Greetham: Theories of the Text, New York 1999, 63: "[The text] is, on one hand, a place of fixed, determinable, concrete signs, a material artefact, and yet, on the other, an ineffable location of immaterial concepts, not dependent at all on performance transmission. It is, on the one hand, a weighty authority with direct access to originary meaning, and, on the other, a slowly accumulating, socially derived series of meanings, each at war with the other for prominence and acceptance. It is a place inhabited only by a sole, creative author who unwillingly releases control to social transmission, and it is also a place constructed wholly out of social negotiations over transmission and reception."

[18] Vgl. die Projektbeschreibung https://www.literatur.hu-berlin.de/de/berliner-intellektuelle-1800-1830 <20.10.2015> sowie den Werkstattbericht nach vier Jahren https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01140932 <20.10.2015>.

[19] Dazu vgl. auch die Einleitung in Baillot / Yuva (Hg.): France-Allemagne (wie Anm. 1), 11-27.

Empfohlene Zitierweise
Anne Baillot, Berliner 'Intellektuelle' um 1800. Eine kontroverse Kategorie und ihre Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/7), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Die preußische Hauptstadt zu Beginn des 19. Jh. (Datum des letzten Besuchs).