Friedrich von Gentz (1764-1832) ‒ ein Intellektueller avant la lettre? Beobachtungen anhand der Quellenpublikation "Gentz digital"

Selbstreflexionen eines Desillusionierten

Michael Rohrschneider

<1>

Als politischer Schriftsteller war Gentz streitbar. Iwan-Michelangelo D'Aprile hat dies vor einigen Jahren anhand einer Kontrastierung Gentz' mit Friedrich Buchholz (1768-1843) exemplarisch demonstriert. "Die beiden in etwa gleichaltrigen Autoren stehen exemplarisch für einen neuen Typus des politischen Zeitschriftstellers, der hauptsächlich in politischen Journalen tagesaktuelles Geschehen analysiert und zu den wichtigen politischen Entwicklungen Stellung bezieht." [1] Doch während sich Buchholz, der "Exponent des Frühliberalismus", [2] gerne als freier Autor stilisierte und gemäß seinem eigenen aufklärerischen Anspruch nach einer umfassenden politischen Öffentlichkeit strebte, äußerte sich Gentz in seinen Schriften wiederholt außerordentlich skeptisch hinsichtlich der politischen Urteilsfähigkeit der breiten Masse.

<2>

In der mit dem Titel "Ueber den Einfluß politischer Schriften, und den Charakter der Burkischen" versehenen Einführung seiner berühmten Burke-Übersetzung schreibt Gentz an exponierter Stelle, nämlich gleich zu Beginn: "Es war eine Zeit, wo es für einen denkenden Mann kaum einen edlern und kaum einen süßern Beruf gab, als ‒ politischer Schriftsteller zu seyn. [...] Jetzt hat sich das Verhältniß sonderbar geändert. Unser mit Kenntnissen aller Art gesättigtes Jahrhundert will über das Ziel hinausfliegen, und fängt an des Zügels zu bedürfen. Eine einseitige, regellose, ausschweifende Bearbeitung des Verstandes, die mit der Bildung des Charakters in keinem Ebenmaß steht, treibt in allen Ländern von Europa die rastlose, unmuthige, neuerungssüchtige Stimmung hervor, die sich allemahl da einfindet, wo Geistes-Cultur ohne wahre Energie erscheint. Das Uebermaß des Wissens kann der Menschheit so verderblich werden, als es die Unwissenheit ihr war." [3]

<3>

Gerade Buchholz war aus der Sicht Gentz' ein "Paradebeispiel des populistischen Publizisten", [4] also genau desjenigen Typus des politischen Schriftstellers, den Gentz schon in seinen frühen Schriften mit Vehemenz anprangerte. In einem Brief an den Schweizer Historiker Johannes von Müller (1752-1809) vom 3. Februar 1806 berichtete Gentz: "Ich las vor einigen Tagen den Anti-Leviatan von Buchholz; und noch kan ich mich von der schauerhaften Lectüre nicht erholen. Solche Bestien herrschen jetzt fast ausschließend in den Journalen." [5] Zwischen Gentz und Buchholz entwickelte sich ‒ fast folgerichtig, ist man geneigt zu sagen ‒ in der Frage, welche Konsequenzen man aus den Napoleonischen Kriegen zu ziehen habe, eine regelrechte Fehde, die nicht frei von persönlichen Schmähungen war. Dahinter standen im Kern, wie D'Aprile überzeugend dargelegt hat, zwei unterschiedliche Konzepte von Öffentlichkeit: Bei Buchholz der Versuch, einen programmatischen Wandel "von der Arkanpolitik zur modernen Medienpolitik" [6] zu bewerkstelligen, wohingegen Gentz angesichts der von Frankreich ausgehenden revolutionären Dynamik zuvorderst darauf bedacht war, "den vernunftfremden, ungebremst agonalen Elementen der menschlichen Natur" [7] entgegenzuwirken. Auch und gerade vor diesem Hintergrund kam ein prinzipieller Verzicht auf Arkanpolitik, wie ihn Buchholz propagierte, für Gentz nicht infrage. Vielmehr stand seine letztlich elitär gedachte Forderung nach Exklusivität in der Sphäre des Politischen in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zu den Transformationen der Öffentlichkeit(en) seines Zeitalters. [8] Sein weiterer Werdegang in österreichischen Diensten sollte dies in aller Deutlichkeit zeigen.

<4>

Die erwähnte Doppelrolle Gentz' als politischer Schriftsteller einerseits und Mann der politischen Praxis andererseits ist für zentrale Fragen der Intellektuellengeschichte von herausragender Bedeutung: Ist "freischwebende Intelligenz" [9] im Sinne Karl Mannheims (1893-1947) und Teilhabe an politischer Macht in einer Person vereint überhaupt denkbar? Inwiefern verliert zum Beispiel der politische Schriftsteller in dem Moment seinen Status als autonomer Intellektueller, in dem er zu einem Akteur der Macht wird? Ist die geistige Distanz zum praktischen Staats- und Politikgeschäft Conditio sine qua non für den Intellektuellen, ja vielleicht sogar definitorischer Kern des Intellektuellen generell? Wie verhält es sich also mit dem charakteristischen Spannungsverhältnis von "Wort und Macht"? [10]

<5>

Gentz ist in diesem Kontext ein ausgesprochen interessantes Fallbeispiel. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass er selbst über diese Fragen sehr intensiv reflektiert hat. Eine Schlüsselquelle ist in diesem Kontext ein Brief Gentz' an den Historiker Heinrich Luden (1778-1847) vom 16. März 1814, entstanden zu einem Zeitpunkt, als sich Gentz nahezu auf dem Zenit seiner politischen Bedeutung befand. Vorausgegangen war eine Anfrage Ludens bezüglich eines Publikationsvorhabens. Gentz antwortete darauf wie folgt: "Ich bin in mannigfaltigen, zum Teil wichtigen und delikaten Verhältnissen so befangen, daß mir zu öffentlichen Arbeiten weder Zeit noch Freiheit mehr vergönnt ist. [...] Ich habe in frühern Zeiten in der schriftstellerischen Laufbahn einige Dienste, deren Wert ich jedoch heute äußerst mäßig anschlage, geleistet. Jetzt würde ich, wenn ich auch Zeit und Muße gewänne, in dieser Sphäre nicht viel Gutes mehr stiften. Ich will Ihnen, als einen Beweis meiner Achtung für Ihren aufgeklärten Geist, und für Ihren männlichen und rechtlichen Charakter, die wahre Ursache dieser Veränderung mit einer Offenheit, die man sonst wohl in einem ersten Briefe nicht zu finden gewohnt ist, darlegen." [11]

<6>

Und nun folgt die Begründung dafür, dass Gentz als Schriftsteller, wie er es formuliert, "nicht viel Gutes mehr stiften" [12] könne: "Ich habe durch einen Zusammenfluß von Umständen das Innre der großen Geschäfte, den geheimen Gang der Politik, den Geist und Charakter fast aller Hauptpersonen auf dem Weltschauplatz unsrer Zeit, den wahren Sinn und Gehalt der meisten öffentlichen Verhandlungen, und die Gebrechlichkeit, Trüglichkeit, und Eitelkeit fast alles dessen, was aus einer gewissen Ferne gesehen, verdienstvoll oder imposant erscheint, dergestalt kennen gelernt, daß ich durchaus keiner Illusion mehr fähig bin. Sobald man in diesem Zustande ist, kann man nicht mehr wohltätig aufs Publikum wirken." [13] Ganz offenkundig zog Gentz hier einen klaren Trennungsstrich: Als "Insider der Macht" [14] konnte und wollte er nicht mehr in der Art und Weise als politischer Schriftsteller agieren, wie er es noch in früheren Jahren praktiziert hatte.

<7>

Was Gentz damit konkret meinte, wird im weiteren Kontext dieses Briefes deutlich. Dort schreibt er: "Ich halte es für einen Vorteil von äußerster Wichtigkeit, daß es gerade in der Politik eine Klasse von Schriftstellern gebe, welche [...] ein gewisses Ideal des höchsten politischen Gutes unverrückt im Auge behalten, das Streben danach bei allen großen Maßregeln der Regierungen voraussetzen, und ihren Gegenstand stets so behandeln, als müßte zuletzt wahre Philanthropie, Weisheit, und Tugend im Hintergrunde alles Wirkens und Treibens liegen. Dies erfordert aber durchaus, daß sie dem innern Räderwerk der ganzen Maschinerie nicht zu nahe kommen, und sich, um es etwas stark auszudrücken, mit dem Schmutz und Rost des wahren praktischen Lebens, des Welt- und Geschäftsganges nicht zu vertraut machen. Ist dies einmal geschehen, so kann man allenfalls noch ein brauchbarer und sinnreicher Memoirenschreiber (und zwar auch nur für die Nachwelt), nie mehr ein tüchtiger, entschlossner, und begeisterter politischer Schriftsteller sein." [15]

<8>

Und weiter führt Gentz noch aus: "Für solche Werke, wie Sie sie beabsichten, zum Teil schon geleistet haben, und gewiß noch ferner leisten werden ‒ d. h. gerade für die, welche auch ich sonst ambitionierte ‒ bin ich verdorben und verloren; und in einer Musik, wie die, welche Sie in Ihrem Journal anstimmen, würde meine Stimme nur ein häßlicher Mißton sein." [16]

<9>

Viel deutlicher konnte Gentz nicht werden. Desillusioniert gelangte er in dieser Phase seines Lebens zu dem ernüchternden Befund, dass er zu nahe an den Puls der Macht gelangt war, um noch als autonomer politischer Schriftsteller agieren zu können. Vielmehr war er, wie er es ausdrückte, zu vertraut "mit dem Schmutz und Rost des wahren praktischen Lebens, des Welt- und Geschäftsganges" [17] − ein Gedanke, der ihn sein weiteres Leben kontinuierlich begleitete. [18]

<10>

Ist also jemand, so könnte man Gentz' Gedankengang weiter ausführen, in die konkreten Gänge der Politik so dermaßen verwoben, wie er es zum damaligen Zeitpunkt offenbar selbst empfand, so könne und dürfe er keine politischen Ideale mehr verkünden, sondern müsse vielmehr akzeptieren, dass ihm dazu die nötige Distanz fehle. Er könne demzufolge kein "tüchtiger, entschlossner, und begeisterter politischer Schriftsteller" [19] mehr sein. Intellektualität und Teilhabe an realer politischer Macht müssten dementsprechend, folgt man Gentz' Argumentation, gänzlich inkompatibel sein.

<11>

Nun muss man die hier zitierten Aussagen zum einen kontextualisieren und zum anderen kritisch hinterfragen, will man zu einer angemessenen Einschätzung dieser Textpassagen kommen. Sicherlich ist zunächst einmal zu konstatieren, dass Gentz' Bedürfnis, sich selbst und sein eigenes Handeln zu stilisieren, ein Charakterzug war, der sein Leben und Wirken durchgängig begleitete. Auch der zitierte Brief an Luden ist in diesem Kontext wahrscheinlich keine Ausnahme. Ganz banal könnte man die Ausführungen Gentz' auch dahingehend deuten, dass er möglicherweise einen eleganten Grund dafür suchte, die Anfrage Ludens abzulehnen. Dies trifft aber wohl nicht den Kern der Sache. Denn es ist davon auszugehen, dass Gentz in subjektiv ehrlicher Weise das "Changieren zwischen Staatsnähe und Unabhängigkeit" [20] nicht nur persönlich als schwieriges Spannungsverhältnis wahrgenommen hat, sondern dass er es ausdrücklich als notwendiges Übel empfunden hat, aufgrund seiner Immediatstellung am Puls des Geschehens nicht mehr wie gewünscht am politischen Diskurs seiner Zeit partizipieren zu können.

<12>

So nannte Gentz die politische Diskussion in einem bislang ungedruckten Brief an Paul Anton Fürst von Esterházy von Galántha vom 15. Januar 1816 "la plus grande de mes jouissances et mon premier besoin intellectuel", [21] und es ist davon auszugehen, dass dies subjektiv ehrlich war. Damit sind wir nun auch im Hinblick auf den Sprachgebrauch ganz nahe am Begriff des Intellektuellen angelangt, der hier sehr deutlich mit der Sphäre des Politischen in Verbindung gebracht wird.
 

Anmerkungen

[1] Iwan-Michelangelo D'Aprile: "Wo der Pöbel vernünftelt ..." Die Fehde zwischen Buchholz und Gentz, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2009), H. 4, 33-46, hier: 35.

[2] D'Aprile: Fehde (wie Anm. 1), 35.

[3] Friedrich Gentz: Ueber den Einfluß politischer Schriften, und den Charakter der Burkischen", in: [Edmund Burke:] Betrachtungen über die französische Revolution. Nach dem Englischen des Herrn Burke neu-bearbeitet [...] von Friedrich Gentz, 1. Teil, Berlin 1793, VII-XL, hier: VIIf.

[4] D'Aprile: Fehde (wie Anm. 1), 39.

[5] Hier zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/3597.html?l=de <30.09.2015>.

[6] D'Aprile: Fehde (wie Anm. 1), 38; zum generellen Zusammenhang vgl. Ernst Opgenoorth: Publicum – privatum – arcanum. Ein Versuch zur Begrifflichkeit frühneuzeitlicher Kommunikationsgeschichte, in: Bernd Sösemann (Hg.): Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 12), Stuttgart 2002, 22-44.

[7] Günther Kronenbitter: Gegengift. Friedrich Gentz und die Französische Revolution, in: Christoph Weiß (Hg. in Zusammenarbeit mit Wolfgang Albrecht): Von 'Obscuranten' und 'Eudämonisten'. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert (= Literatur im historischen Kontext 1), St. Ingbert 1997, 602.

[8] Vgl. insgesamt Günther Kronenbitter: Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft 71), Berlin 1994, 136.

[9] Vgl. Dirk Hoeges: Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und "freischwebende Intelligenz" in der Weimarer Republik (= Fischer Taschenbücher 10967), Frankfurt am Main 1994.

[10] Vgl. insgesamt Kronenbitter: Wort und Macht (wie Anm. 8).

[11] Friedrich Carl Wittichen (Hg.): Briefe von und an Friedrich von Gentz. 1. Bd.: Briefe an Elisabeth Graun, Christian Garve, Karl August Böttiger und andere, München / Berlin 1909, ND Hildesheim / Zürich / New York 2002, 346-349, hier: 346f; vgl. http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/2975.html?l=de <30.09.2015>; zu diesem Brief siehe ferner Harro Zimmermann: Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik, Paderborn u.a. 2012, 210.

[12] Wittichen (Hg.): Briefe (wie Anm. 11), 347

[13] Wittichen (Hg.): Briefe (wie Anm. 11), 347. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Alexandra Nebelung.

[14] Zimmermann: Gentz (wie Anm. 11), 210.

[15] Wittichen (Hg.): Briefe (wie Anm. 11), 347.

[16] Wittichen (Hg.): Briefe (wie Anm. 11), 347f.

[17] Wittichen (Hg.): Briefe (wie Anm. 11), 347.

[18] Ein wichtiges Zeugnis ist in diesem Zusammenhang Gentz' Brief an Amalie von Helvig, Berlin, Oktober 1827; Gustav Schlesier (Hg.): Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal, 5. Teil, Mannheim 1840, ND Hildesheim / Zürich / New York 2002, hier insbesondere: 320. Vgl. hierzu die ausführlichen Ausführungen in dem Beitrag von Alexandra Nebelung.

[19] Wittichen (Hg.): Briefe (wie Anm. 11), 347.

[20] D'Aprile: Fehde (wie Anm. 1), 33.

[21] Zitiert nach "Gentz digital", http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/5345.html?l=de <30.09.2015>.

Empfohlene Zitierweise
Michael Rohrschneider, Friedrich von Gentz (1764-1832) ‒ ein Intellektueller avant la lettre? Beobachtungen anhand der Quellenpublikation "Gentz digital" (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/9), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Selbstreflexionen eines Desillusionierten (Datum des letzten Besuchs).