Friedrich von Gentz (1764-1832) ‒ ein Intellektueller avant la lettre? Beobachtungen anhand der Quellenpublikation "Gentz digital"
Selbstreflexionen eines Desillusionierten
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Als politischer Schriftsteller war Gentz streitbar. Iwan-Michelangelo D'Aprile hat dies vor einigen Jahren anhand einer Kontrastierung Gentz' mit Friedrich Buchholz (1768-1843) exemplarisch demonstriert. "Die beiden in etwa gleichaltrigen Autoren stehen exemplarisch für einen neuen Typus des politischen Zeitschriftstellers, der hauptsächlich in politischen Journalen tagesaktuelles Geschehen analysiert und zu den wichtigen politischen Entwicklungen Stellung bezieht."
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In der mit dem Titel "Ueber den Einfluß politischer Schriften, und den Charakter der Burkischen" versehenen Einführung seiner berühmten Burke-Übersetzung schreibt Gentz an exponierter Stelle, nämlich gleich zu Beginn: "Es war eine Zeit, wo es für einen denkenden Mann kaum einen edlern und kaum einen süßern Beruf gab, als ‒ politischer Schriftsteller zu seyn. [...] Jetzt hat sich das Verhältniß sonderbar geändert. Unser mit Kenntnissen aller Art gesättigtes Jahrhundert will über das Ziel hinausfliegen, und fängt an des Zügels zu bedürfen. Eine einseitige, regellose, ausschweifende Bearbeitung des Verstandes, die mit der Bildung des Charakters in keinem Ebenmaß steht, treibt in allen Ländern von Europa die rastlose, unmuthige, neuerungssüchtige Stimmung hervor, die sich allemahl da einfindet, wo Geistes-Cultur ohne wahre Energie erscheint. Das Uebermaß des Wissens kann der Menschheit so verderblich werden, als es die Unwissenheit ihr war."
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Gerade Buchholz war aus der Sicht Gentz' ein "Paradebeispiel des populistischen Publizisten",
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Die erwähnte Doppelrolle Gentz' als politischer Schriftsteller einerseits und Mann der politischen Praxis andererseits ist für zentrale Fragen der Intellektuellengeschichte von herausragender Bedeutung: Ist "freischwebende Intelligenz"
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Gentz ist in diesem Kontext ein ausgesprochen interessantes Fallbeispiel. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass er selbst über diese Fragen sehr intensiv reflektiert hat. Eine Schlüsselquelle ist in diesem Kontext ein Brief Gentz' an den Historiker Heinrich Luden (1778-1847) vom 16. März 1814, entstanden zu einem Zeitpunkt, als sich Gentz nahezu auf dem Zenit seiner politischen Bedeutung befand. Vorausgegangen war eine Anfrage Ludens bezüglich eines Publikationsvorhabens. Gentz antwortete darauf wie folgt: "Ich bin in mannigfaltigen, zum Teil wichtigen und delikaten Verhältnissen so befangen, daß mir zu öffentlichen Arbeiten weder Zeit noch Freiheit mehr vergönnt ist. [...] Ich habe in frühern Zeiten in der schriftstellerischen Laufbahn einige Dienste, deren Wert ich jedoch heute äußerst mäßig anschlage, geleistet. Jetzt würde ich, wenn ich auch Zeit und Muße gewänne, in dieser Sphäre nicht viel Gutes mehr stiften. Ich will Ihnen, als einen Beweis meiner Achtung für Ihren aufgeklärten Geist, und für Ihren männlichen und rechtlichen Charakter, die wahre Ursache dieser Veränderung mit einer Offenheit, die man sonst wohl in einem ersten Briefe nicht zu finden gewohnt ist, darlegen."
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Und nun folgt die Begründung dafür, dass Gentz als Schriftsteller, wie er es formuliert, "nicht viel Gutes mehr stiften"
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Was Gentz damit konkret meinte, wird im weiteren Kontext dieses Briefes deutlich. Dort schreibt er: "Ich halte es für einen Vorteil von äußerster Wichtigkeit, daß es gerade in der Politik eine Klasse von Schriftstellern gebe, welche [...] ein gewisses Ideal des höchsten politischen Gutes unverrückt im Auge behalten, das Streben danach bei allen großen Maßregeln der Regierungen voraussetzen, und ihren Gegenstand stets so behandeln, als müßte zuletzt wahre Philanthropie, Weisheit, und Tugend im Hintergrunde alles Wirkens und Treibens liegen. Dies erfordert aber durchaus, daß sie dem innern Räderwerk der ganzen Maschinerie nicht zu nahe kommen, und sich, um es etwas stark auszudrücken, mit dem Schmutz und Rost des wahren praktischen Lebens, des Welt- und Geschäftsganges nicht zu vertraut machen. Ist dies einmal geschehen, so kann man allenfalls noch ein brauchbarer und sinnreicher Memoirenschreiber (und zwar auch nur für die Nachwelt), nie mehr ein tüchtiger, entschlossner, und begeisterter politischer Schriftsteller sein."
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Und weiter führt Gentz noch aus: "Für solche Werke, wie Sie sie beabsichten, zum Teil schon geleistet haben, und gewiß noch ferner leisten werden ‒ d. h. gerade für die, welche auch ich sonst ambitionierte ‒ bin ich verdorben und verloren; und in einer Musik, wie die, welche Sie in Ihrem Journal anstimmen, würde meine Stimme nur ein häßlicher Mißton sein."
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Viel deutlicher konnte Gentz nicht werden. Desillusioniert gelangte er in dieser Phase seines Lebens zu dem ernüchternden Befund, dass er zu nahe an den Puls der Macht gelangt war, um noch als autonomer politischer Schriftsteller agieren zu können. Vielmehr war er, wie er es ausdrückte, zu vertraut "mit dem Schmutz und Rost des wahren praktischen Lebens, des Welt- und Geschäftsganges"
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Ist also jemand, so könnte man Gentz' Gedankengang weiter ausführen, in die konkreten Gänge der Politik so dermaßen verwoben, wie er es zum damaligen Zeitpunkt offenbar selbst empfand, so könne und dürfe er keine politischen Ideale mehr verkünden, sondern müsse vielmehr akzeptieren, dass ihm dazu die nötige Distanz fehle. Er könne demzufolge kein "tüchtiger, entschlossner, und begeisterter politischer Schriftsteller"
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Nun muss man die hier zitierten Aussagen zum einen kontextualisieren und zum anderen kritisch hinterfragen, will man zu einer angemessenen Einschätzung dieser Textpassagen kommen. Sicherlich ist zunächst einmal zu konstatieren, dass Gentz' Bedürfnis, sich selbst und sein eigenes Handeln zu stilisieren, ein Charakterzug war, der sein Leben und Wirken durchgängig begleitete. Auch der zitierte Brief an Luden ist in diesem Kontext wahrscheinlich keine Ausnahme. Ganz banal könnte man die Ausführungen Gentz' auch dahingehend deuten, dass er möglicherweise einen eleganten Grund dafür suchte, die Anfrage Ludens abzulehnen. Dies trifft aber wohl nicht den Kern der Sache. Denn es ist davon auszugehen, dass Gentz in subjektiv ehrlicher Weise das "Changieren zwischen Staatsnähe und Unabhängigkeit"
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So nannte Gentz die politische Diskussion in einem bislang ungedruckten Brief an Paul Anton Fürst von Esterházy von Galántha vom 15. Januar 1816 "la plus grande de mes jouissances et mon premier besoin intellectuel",
Anmerkungen
Empfohlene Zitierweise
Michael Rohrschneider, Friedrich von Gentz (1764-1832) ‒ ein Intellektueller avant la lettre? Beobachtungen anhand der Quellenpublikation "Gentz digital" (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/9), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Selbstreflexionen eines Desillusionierten (Datum des letzten Besuchs).