Friedrich von Gentz (1764-1832) ‒ ein Intellektueller avant la lettre? Beobachtungen anhand der Quellenpublikation "Gentz digital"
Einleitung
Michael Rohrschneider
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"J'accuse...!" − dem am 13. Januar 1898 publizierten offenen Brief Émile Zolas (1840-1902) an den damaligen französischen Präsidenten Félix Faure (1841-1899) zur berühmten Dreyfus-Affäre wird bis heute zäsurartiger Impulscharakter im Hinblick auf die Genese des modernen 'public intellectual' zugeschrieben. [1] Spätestens seitdem gelten Intellektuelle als besonders auffällige Akteure der politischen Öffentlichkeit(en) westlicher Gesellschaften, wobei die zahlreichen Versuche unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen, eine eindeutige Wesensbestimmung von Intellektualität vorzunehmen, bislang zu keinem allgemein akzeptierten Ergebnis gelangt sind. [2] So wurde angesichts der augenfälligen Bedeutungsvielfalt des Terminus 'Intellektueller' unlängst bilanziert: "Mag das Werkzeug auch denselben Namen tragen ('Intellektueller'), es ist in der Hand verschiedener Menschen, verschiedener Ideologien so verschieden geformt, zu so diversen Zwecken gut, dass die Frage nur so lauten kann: 'Wer soll bei uns aus welchen Gründen zu welchen Zwecken 'Intellektueller' genannt werden?'" [3]
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In der jüngeren historischen Forschung lassen sich in diesem Zusammenhang einige bemerkenswerte Neuentwicklungen erkennen. Hierzu zählt das in den letzten Jahren mit Verve vorgebrachte Postulat, auch schon für Akteure der Frühen Neuzeit mit dem Terminus 'Intellektuelle' zu operieren. [4] Dass die sich daran anschließende Diskussion bislang nicht zu einem definitiven Resultat geführt hat, liegt offenkundig an der erwähnten Schwierigkeit, den Begriff überhaupt definitorisch in den Griff zu bekommen. Denn was macht den eigentlichen Kern von Intellektualiät aus? Das oftmals anzutreffende politische Selbstverständnis? Die kritische Distanz zur Macht? Oder hat der Begriff im Wesentlichen als Sammelbezeichnung für Kulturschaffende und geistig Tätige heuristischen Wert?
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Ein gutes Beispiel, anhand dessen man sowohl die Frage der zeitlichen Verortung des Phänomens als auch die kontrovers ausgetragenen Versuche einer Begriffsbestimmung exemplarisch durchdeklinieren kann, ist Friedrich von Gentz (1764-1832). Denn Gentz' Leben und Wirken war ganz entscheidend durch eine charakteristische Doppelrolle geprägt: Einerseits zählt er zu den prominentesten Publizisten und politischen Denkern der Zeit um 1800; andererseits wurde er als enger Mitarbeiter des Fürsten von Metternich im Laufe seines Lebens mehr und mehr zu einem Auftragsschreiber und nolens volens in die mitunter 'schmutzige' Alltagsarbeit auf höchster politischer Ebene involviert. Dass Gentz dieses Spannungsverhältnis zwischen intellektuellem Schaffen und Verwicklung in die Arkana der politischen Tagespolitik explizit wahrnahm und problematisierte, ist bekannt und wird im Folgenden noch weiter aufzuzeigen sein.
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Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, das für das Wirken des Friedrich von Gentz bezeichnende Spannungsverhältnis zwischen "Wort und Macht" [5] zu analysieren und insbesondere anhand einer neuen digitalen Quellenpublikation ("Gentz digital") näher zu beleuchten. Dazu ist es zunächst erforderlich, einführend ‒ in aller gebotenen Kürze ‒ die wesentlichen Stationen seiner Vita und die zentralen Aspekte seines politischen Wirkens zu skizzieren. In einem zweiten Schritt wird es dann darum gehen, Gentz als Persönlichkeit vorzustellen, für die das problematische Verhältnis von "Intellektualität und Realpolitik" [6] lebensbegleitende Prägekraft hatte. Und in einem dritten Schritt wird schließlich geschildert, wo man die Spuren Gentz' neuerdings findet, wenn man sich auf eine virtuelle Spurensuche begibt.
Anmerkungen
[1] Die Literatur zu diesem Themenkomplex ist nahezu uferlos; vgl. neuerdings Tom Conner: The Dreyfus Affair and the rise of the French public intellectual, Jefferson / North Carolina 2014.
[2] Zu den Problemen einer trennscharfen Definition des 'Intellektuellen' vgl. jüngst die instruktive Einleitung der Herausgeber in Rainer Bayreuther u.a. (Hg.): Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre (= Wolfenbütteler Forschungen 125), Wiesbaden 2011, 9-31, hier: 12f. In der Forschung lassen sich holzschnittartig zwei Gruppen von Begriffsbestimmungen unterscheiden: Zum einen die Definitionsversuche von Autoren, die von einem vergleichsweise weiten Intellektuellen-Begriff ausgehen, und zum anderen die Begriffsbestimmungen von Vertretern eines engeren Intellektuellen-Konzepts, das stärker das politische Engagement von Intellektuellen und deren Herrschafts- und Gesellschaftskritik akzentuiert; vgl. ebd., 17ff. sowie zusätzlich Isabella von Treskow: Geschichte der Intellektuellen in der Frühen Neuzeit. Standpunkte und Perspektiven der Forschung, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 38), Berlin 2010, 15-32, hier: 19-28.
[3] Dietz Bering: "Intellektueller": Schimpfwort ‒ Diskursbegriff ‒ Grabmal?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" 60 (2010), Ausgabe 40 / 2010 vom 4.10.2010, 5-12, hier: 12; online unter: http://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32475/intellektuelle <30.09.2015>.
[4] Hinzuweisen ist in diesem Kontext zum Beispiel auf folgende Sammelbände: Jutta Held (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, München 2002; Schorn-Schütte (Hg.): Intellektuelle (wie Anm. 2); Bayreuther u.a. (Hg.): Kritik (wie Anm. 2).
[5] In Anlehnung an Günther Kronenbitter: Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft 71), Berlin 1994.
[6] Harro Zimmermann: Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik, Paderborn u.a. 2012, 210.