Die Korrespondenz des Friedrich von Gentz mit dem Internuntius Franz Freiherr von Ottenfels-Gschwind in den Jahren 1822-1825
Perspektiven
Christian Maiwald
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Fremdwahrnehmung und Informationsverarbeitung sind zwei untrennbare Phänomene. Wer sich mit Alteritätsdiskursen auseinandersetzt, muss notwendigerweise auch nach den Wegen der Informationsaufnahme fragen. Umso mehr, wenn der untersuchte Autor selbst niemals die Gegenstände seiner Aussagen vor Augen (und Ohren) hatte. Im konkreten Fall des Friedrich von Gentz traf dieser Umstand zu, wie er in einem Brief an Ottenfels ausdrücklich erwähnte: "Ich bin nie mit den Türken in unmittelbarer Berührung gewesen, weiß selbst nicht, ob ich sie lieben oder hassen würde, wenn ich sie näher kennte". [1] Woher nahm er also sein Wissen über ihm unbekannte Regionen und Menschen? [2]
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Für den zu behandelnden Zeitraum fällt die Antwort auf diese Frage prinzipiell leicht: "Verglichen mit dem 20. Jahrhundert, in dem die außereuropäische Welt für Europäer eine Welt der Bilder ist, war im 18. Jahrhundert Asien ein literarisches Projekt, eine Welt aus Sprache". [3] Daran hatte sich auch im frühen 19. Jahrhundert (noch) nichts geändert. Bei den Trägern von Informationen über das 'Fremde' handelte es sich also primär um Schriftzeugnisse, insbesondere um Reiseberichte und Historiographie. Sehr viel schwerer erweist sich die Beantwortung der Frage aber im jeweiligen Einzelfall: Welche Reiseberichte, Länderbeschreibungen und Geschichtswerke hat Gentz gelesen?
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In der Masse schier unendlicher Briefe und Tagebuchaufzeichnungen relevantes Material zu sondieren, erweist sich als mühsam. Jedoch kann wohl nur eine intensive Analyse von Tagebüchern und Korrespondenzen Aufschlüsse geben über die von Gentz konsumierten Schriften, die sein 'Orient'-Bild nachhaltig geprägt haben müssen. Eine erste, nicht repräsentative und gekürzte Stichprobe aus Briefen und Diarien soll zum Abschluss dieses Aufsatzes präsentiert werden.
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Die aus Briefen und Tagebucheinträgen eruierten vorläufigen Ergebnisse bezeugen vorrangig drei Interessenssphären. Erstens ist ein nachvollziehbares Interesse an zeitgenössischen Publikationen zu erkennen, welche die Vorgänge in Griechenland thematisierten. [4] Zweitens scheint sich Gentz auch mit der Geschichte des Osmanischen Reiches und der Stadt Konstantinopel im Besonderen auseinandergesetzt zu haben. [5] Drittens belegen die ersten Auswertungen aber auch ein allgemeines Interesse an 'orientalischen' Ländern respektive an 'orientalischer' Kultur. Zwei Tagebucheinträge deuten darauf hin, dass Gentz sowohl die Schriften des schottischen Reiseschriftstellers James Baillie Fraser über seine Reisen in Persien, als auch eine nicht näher spezifizierte "Geschichte des Mahomedanismus" gelesen hat. [6] Bei letzterer könnte es sich um das 1817 / 1818 publizierte Werk "History of Mohammedanism" des englischen Historikers Charles Mills gehandelt haben. Inwieweit aber diese und viele andere Werke neben den zusätzlichen ergänzenden Informationsquellen, wie diplomatischen Berichten, Depeschen und Korrespondenzen, die Gentz'schen Bilder vom 'Orient' beeinflussten, bleibt eine bisher noch unbeantwortete, aber umso bedeutendere Frage für nachfolgende Forschungen.
Anmerkungen
[1] Brief an Ottenfels, Weinhaus, 18.07.1826 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/1835.html?l=de <02.10.2015>.
[2] Wissen, welches er nicht zuletzt als Redakteur und Verfasser der 'Türkischen Artikel' im "Österreichischen Beobachter" wiederholt unter Beweis stellte.
[3] Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, 2. Aufl., München 2013, 176.
[4] Brief an Ottenfels, Wien, 02.07.1824 (bisher ungedruckt), in dem Gentz die Schrift des französischen Konsuls in Patras, François Pouqueville erwähnt: Histoire de la régénération de la Grèce depuis 1740 jusqu'en 1824, 4 Bde., Paris 1824; vgl. "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/2017.html?l=de <02.10.2015>.
[5] Der Brief an Ignaz Lorenz Freiherr von Stürmer, Wien, 18.05.1822 (bisher ungedruckt) beweist Gentz' Kenntnis der Schrift von Joseph Hammer: Constantinopolis und der Bosporos örtlich und geschichtlich beschrieben, 2 Bde., Pest 1822; vgl. "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/1587.html?l=de <02.10.2015>.
[6] Vgl. Ludmilla Assing (Hg.): Aus dem Nachlaß Varnhagen's von Ense. Tagebücher von Friedrich von Gentz, Bd. 4, Leipzig 1874, 283 und 290.