Berliner 'Intellektuelle' um 1800. Eine kontroverse Kategorie und ihre Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter
Korpusbildung und Forschungsergebnisse
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Die grundsätzliche Voraussetzung des Forschungsvorhabens "Berliner Intellektuelle 1800-1830" ist ein disziplinärer Barrierebruch gewesen, der auf die damalige disziplinäre Struktur zurückzuführen ist. Die soziale Zusammensetzung und die Geselligkeitspraxis in Berlin um 1800 waren faktisch so angelegt, dass nicht nur Philosophen auf Philosophen Einfluss nahmen und nicht nur Schriftsteller den Schriftstellern Ratschläge für die Überarbeitung einer Romanstruktur gaben, sondern die Philosophen den Schriftstellern ebenso Hinweise zukommen ließen und die Schriftsteller Verschiebungen in philosophischen Thesen bewirken konnten. So kann die historische Annäherung an diese Konstellation nicht rein literaturhistorisch, nicht rein wissenschaftshistorisch, auch nicht rein philosophiehistorisch sein. Sie kann nur ideengeschichtlich sein in dem Sinne, dass Wissenschafts-, Literatur und Philosophiegeschichte dort ineinander greifen.
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Diese disziplinäre Durchlässigkeit gilt nicht nur für die Beziehungen zwischen den historischen Akteuren, sondern sogar für die Einzelpersonen selbst, die sich nicht einer, sondern mehreren sozio-ökonomischen Kategorien bzw. wissenschaftlichen Disziplinen zuordnen lassen. Adelbert von Chamisso war in Personalunion Schriftsteller, Weltumsegler und Botaniker, sowohl im literarischen als auch im wissenschaftlichen Feld tätig. Ludwig Tieck war Schriftsteller und Literaturhistoriker, ihm wurde ein Lehrstuhl für (wohl moderne) Philologie an der Berliner Universität angeboten.
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Im Allgemeinen nutzten die meisten Veröffentlichenden die unterschiedlichen Textformen, die ihnen zur Verfügung standen. Das schließt auch Texte ein, die wir in gedruckter Form heute nicht mehr vorliegen haben: Vorträge, die in Vereinen gehalten wurden oder Vorlesungen, bei denen keine Mitschriften erhalten sind (und selbst wenn solche erhalten sind, kann keine Mitschrift ein vollständiges Transkript sein). Im Falle von Karl Solger konnte ich anhand einer für mich erleuchtenden Mitschrift beobachten, dass er in seinen Lehrveranstaltungen viel polemischer und wissenschaftskritischer war als in seinen veröffentlichten bzw. zur Veröffentlichung gedachten Schriften oder selbst als in den vergleichsweise wenig öffentlichkeitswirksamen universitäts- bzw. fakultätsinternen Zirkularen (auch das eine Positionierungsebene).
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In solchen Positionierungen kristallisieren sich drei maßgebliche Komponenten heraus, die entscheidend zu ihrer Ausgestaltung realiter beitragen: die grundsätzliche sozial-politische Einstellung der Protagonisten, ihr institutioneller Handlungsspielraum, ihr Freundeskreis. Beim akademischen Personal lassen sich diese Aspekte folgendermaßen bezeichnen:
- Die sozial-politische Einstellung: Selbst bei Akteuren, die nicht zwangsläufig politisiert waren, führten die Befreiungskriege dazu, dass politisierte Lager entstanden, in der Regel Lager mit unterschiedlichen Tönungen von Patriotismus. Aber auch die religiöse Einstellung wirkte sich hier aus, wie 1817 im Kontext der Kirchenunion deutlich wurde, die stark polarisierte.
[5] Die soziale Ausgangslage bestimmte, wie soeben am Beispiel Raumer versus Boeckh erwähnt, die strategischen Wege und Entscheidungen mit. - Die Entfaltung eines institutionellen Handlungsspielraums kann an der Berliner Universität zwischen 1810 und 1820 besonders gut beobachtet werden. In Ermangelung vorhandener, fester Regelungen mussten solche in diesen Gründungsjahren erfunden und umgesetzt werden. Der Umgang der unterschiedlichen Universitätsangehörigen mit diesem Gestaltungsspielraum ist umso interessanter, als er bislang grundsätzlich untererforscht ist.
- Der Freundeskreis (manchmal auch die Familie) wirkte entscheidend mit. Diese Wirkungsschicht ist am schwierigsten zu rekonstruieren, da vieles mündlich oder im Rahmen von privaten Zusammenkünften zustande kam, die nicht dokumentiert sind. Auch da ist der Rekurs auf den universitären Kontext insofern sinnvoll, als die Dokumentation selbst der Micro-Management-Prozesse archivarisch vorliegt (und nach wie vor nicht systematisch erforscht worden ist). Die universitäts- bzw. fakultätsinternen Umlaufschreiben (sowie ähnliche Dokumente an der Akademie) sind beispielsweise äußerst sorgfältig und vergleichsweise vollständig erhalten. Über solche akademischen Dokumente hinaus sind jedoch Narrative des Gedankenaustauschs eher im Bereich der (Re)Konstruktion zu verorten – Dokumente, die, wenn sie erhalten sind, durch die Position des Schreibers / Redakteurs stark beeinflusst sind, bis hin zur vollständigen Realitätsverzerrung.
[6] Insofern muss man, um diesen Aspekt in methodisch einigermaßen befriedigender Weise untersuchen zu können, sowohl über Handschriften verfügen, auf denen die das Narrativ überarbeitende Hand kenntlich ist, als auch über Beschreibungen dieser Überarbeitungsarbeit, um Zweck(e) und Zeitpunkt(e) genau bestimmen zu können und damit zu einigermaßen handfesten Analyseelementen zu kommen.[7]
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Auch für die Schriftsteller waren diese drei Ausgangsbedingungen bestimmend. Die Gruppierung bestimmter Veröffentlichungen unter einem Namen, der nicht zwangsläufig deckungsgleich war mit der Person, die die Feder hielt, ist wohl das beste Beispiel für die soziale Akzeptanz von Kooperationsphänomenen, die sich heute nicht immer auseinanderfädeln lassen. Insbesondere die Leistung von schriftstellerisch tätigen Frauen lässt sich nur mit großem Aufwand rekonstruieren, manchmal findet sich gar keine einschlägige Dokumentation. Dorothea Tieck leistete aufwendige Übersetzungsarbeit sowohl für ihren Vater Ludwig Tieck als auch für dessen Freund Friedrich von Raumer.
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Institutioneller Handlungsspielraum war Schriftsteller wohl selten gegeben, sondern immer noch, in der Zeit um 1800, eine Krux. Selbst wenn die sozial-ökonomischen Bedingungen für die Realisierung eines selbständigen Schriftstellerstatus immer mehr in den Bereich des Möglichen rückten, war es jedoch beinahe unmöglich, vom Ertrag seiner Veröffentlichungen zu leben.
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Die Herausforderung bestand im Rahmen des Forschungsvorhabens darin, das der Untersuchung zugrundeliegende Korpus so zu gestalten, dass all die eben erwähnten relevanten Aspekte berücksichtigt werden konnten. Dies bedeutete das Einschließen von:
- Akteuren, die in der Öffentlichkeit unterschiedlich stark wahrgenommen wurden, wie sie es allerdings damals wurden und nicht heute (Distanz zum Kanon wahren, Verzerrungseffekte meiden); Berücksichtigung der Spezifität des Status von Frauen (allerdings integrativ, möglichst ohne prinzipiell die Kategorien genderbedingt voneinander abzukoppeln);
- Textzeugen, die über Entstehungs- und Rezeptionsprozesse Auskunft geben, dies aber auf unterschiedlichen Ebenen der Selbstinszenierung tun, damit textuelle Phänomene mehrfach und damit sicher belegt werden können (das Einzelphänomen gilt in der Regel nicht als aussagekräftig, es kann ein Inszenierungseffekt sein);
- Verbindungen der unterschiedlichen Sphären (Schriftsteller, Publizisten, Verleger);
- der Möglichkeit, sowohl dauerhafte Entwicklungen zu verfolgen als auch bei bestimmten historischen Schaltstellen in die Tiefe zu gehen;
- einer repräsentativen, kritischen Textmasse.
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Sind all diese Voraussetzungen erfüllt, wird es möglich, Transfer- und Intertextualitätsphänomene genauer und in einer neuen Größenordnung und Intensität zu erfassen – aber wie?
Anmerkungen
Empfohlene Zitierweise
Anne Baillot, Berliner 'Intellektuelle' um 1800. Eine kontroverse Kategorie und ihre Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/7), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Korpusbildung und Forschungsergebnisse (Datum des letzten Besuchs).