Berliner 'Intellektuelle' um 1800. Eine kontroverse Kategorie und ihre Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter

Korpusbildung und Forschungsergebnisse

Anne Baillot

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Die grundsätzliche Voraussetzung des Forschungsvorhabens "Berliner Intellektuelle 1800-1830" ist ein disziplinärer Barrierebruch gewesen, der auf die damalige disziplinäre Struktur zurückzuführen ist. Die soziale Zusammensetzung und die Geselligkeitspraxis in Berlin um 1800 waren faktisch so angelegt, dass nicht nur Philosophen auf Philosophen Einfluss nahmen und nicht nur Schriftsteller den Schriftstellern Ratschläge für die Überarbeitung einer Romanstruktur gaben, sondern die Philosophen den Schriftstellern ebenso Hinweise zukommen ließen und die Schriftsteller Verschiebungen in philosophischen Thesen bewirken konnten. So kann die historische Annäherung an diese Konstellation nicht rein literaturhistorisch, nicht rein wissenschaftshistorisch, auch nicht rein philosophiehistorisch sein. Sie kann nur ideengeschichtlich sein in dem Sinne, dass Wissenschafts-, Literatur und Philosophiegeschichte dort ineinander greifen.

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Diese disziplinäre Durchlässigkeit gilt nicht nur für die Beziehungen zwischen den historischen Akteuren, sondern sogar für die Einzelpersonen selbst, die sich nicht einer, sondern mehreren sozio-ökonomischen Kategorien bzw. wissenschaftlichen Disziplinen zuordnen lassen. Adelbert von Chamisso war in Personalunion Schriftsteller, Weltumsegler und Botaniker, sowohl im literarischen als auch im wissenschaftlichen Feld tätig. Ludwig Tieck war Schriftsteller und Literaturhistoriker, ihm wurde ein Lehrstuhl für (wohl moderne) Philologie an der Berliner Universität angeboten. [1] Der Berliner Intellektuelle um 1800 war auch einer, der sich nicht ausschließlich für ein limitiertes Fachgebiet interessierte, sondern global – oder zumindest über den Fachbereich hinaus – dachte. [2]

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Im Allgemeinen nutzten die meisten Veröffentlichenden die unterschiedlichen Textformen, die ihnen zur Verfügung standen. Das schließt auch Texte ein, die wir in gedruckter Form heute nicht mehr vorliegen haben: Vorträge, die in Vereinen gehalten wurden oder Vorlesungen, bei denen keine Mitschriften erhalten sind (und selbst wenn solche erhalten sind, kann keine Mitschrift ein vollständiges Transkript sein). Im Falle von Karl Solger konnte ich anhand einer für mich erleuchtenden Mitschrift beobachten, dass er in seinen Lehrveranstaltungen viel polemischer und wissenschaftskritischer war als in seinen veröffentlichten bzw. zur Veröffentlichung gedachten Schriften oder selbst als in den vergleichsweise wenig öffentlichkeitswirksamen universitäts- bzw. fakultätsinternen Zirkularen (auch das eine Positionierungsebene). [3] Bei August Boeckh sind es die Gremienbesetzungen und die damit zusammenhängenden prozeduralen Umlaufschreiben, die genutzt wurden, um die eigene Position zu stärken und sich damit im Rahmen der Universität eine Stellung zu erarbeiten, die ihm eine vergleichsweise große Redefreiheit ermöglichte. Friedrich von Raumer seinerseits verfügte über eine Art Startkapital an Reputation, da er bekannten preußischen Familien entstammte. Dafür gab er sich mit traditionellen Strukturen nicht zufrieden, kritisierte sie, verließ das von seinem Onkel geleitete Oberzensurkollegium, hielt eine provokante Rede an der Akademie, die er aus diesem Grund dann auch verlassen musste, setzte also dieses Kapital stark aufs Spiel, [4] während andere (Boeckh zum Beispiel) es sich Schritt für Schritt erarbeiteten. Dabei verstanden sich Boeckh und Raumer sehr gut.

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In solchen Positionierungen kristallisieren sich drei maßgebliche Komponenten heraus, die entscheidend zu ihrer Ausgestaltung realiter beitragen: die grundsätzliche sozial-politische Einstellung der Protagonisten, ihr institutioneller Handlungsspielraum, ihr Freundeskreis. Beim akademischen Personal lassen sich diese Aspekte folgendermaßen bezeichnen:

  • Die sozial-politische Einstellung: Selbst bei Akteuren, die nicht zwangsläufig politisiert waren, führten die Befreiungskriege dazu, dass politisierte Lager entstanden, in der Regel Lager mit unterschiedlichen Tönungen von Patriotismus. Aber auch die religiöse Einstellung wirkte sich hier aus, wie 1817 im Kontext der Kirchenunion deutlich wurde, die stark polarisierte. [5] Die soziale Ausgangslage bestimmte, wie soeben am Beispiel Raumer versus Boeckh erwähnt, die strategischen Wege und Entscheidungen mit.
  • Die Entfaltung eines institutionellen Handlungsspielraums kann an der Berliner Universität zwischen 1810 und 1820 besonders gut beobachtet werden. In Ermangelung vorhandener, fester Regelungen mussten solche in diesen Gründungsjahren erfunden und umgesetzt werden. Der Umgang der unterschiedlichen Universitätsangehörigen mit diesem Gestaltungsspielraum ist umso interessanter, als er bislang grundsätzlich untererforscht ist.
  • Der Freundeskreis (manchmal auch die Familie) wirkte entscheidend mit. Diese Wirkungsschicht ist am schwierigsten zu rekonstruieren, da vieles mündlich oder im Rahmen von privaten Zusammenkünften zustande kam, die nicht dokumentiert sind. Auch da ist der Rekurs auf den universitären Kontext insofern sinnvoll, als die Dokumentation selbst der Micro-Management-Prozesse archivarisch vorliegt (und nach wie vor nicht systematisch erforscht worden ist). Die universitäts- bzw. fakultätsinternen Umlaufschreiben (sowie ähnliche Dokumente an der Akademie) sind beispielsweise äußerst sorgfältig und vergleichsweise vollständig erhalten. Über solche akademischen Dokumente hinaus sind jedoch Narrative des Gedankenaustauschs eher im Bereich der (Re)Konstruktion zu verorten – Dokumente, die, wenn sie erhalten sind, durch die Position des Schreibers / Redakteurs stark beeinflusst sind, bis hin zur vollständigen Realitätsverzerrung. [6] Insofern muss man, um diesen Aspekt in methodisch einigermaßen befriedigender Weise untersuchen zu können, sowohl über Handschriften verfügen, auf denen die das Narrativ überarbeitende Hand kenntlich ist, als auch über Beschreibungen dieser Überarbeitungsarbeit, um Zweck(e) und Zeitpunkt(e) genau bestimmen zu können und damit zu einigermaßen handfesten Analyseelementen zu kommen. [7]

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Auch für die Schriftsteller waren diese drei Ausgangsbedingungen bestimmend. Die Gruppierung bestimmter Veröffentlichungen unter einem Namen, der nicht zwangsläufig deckungsgleich war mit der Person, die die Feder hielt, ist wohl das beste Beispiel für die soziale Akzeptanz von Kooperationsphänomenen, die sich heute nicht immer auseinanderfädeln lassen. Insbesondere die Leistung von schriftstellerisch tätigen Frauen lässt sich nur mit großem Aufwand rekonstruieren, manchmal findet sich gar keine einschlägige Dokumentation. Dorothea Tieck leistete aufwendige Übersetzungsarbeit sowohl für ihren Vater Ludwig Tieck als auch für dessen Freund Friedrich von Raumer. [8] Adelheid Reinbold suchte sich ein männliches Pseudonym aus und genoss den Schutz Ludwig Tiecks, der mit seinem Vorwort dem Werk eine Leserschaft zuzog, die es sonst vermutlich nicht gehabt hätte. Wie viele andere Schriftstellerinnen wurden dafür an Zeitschriftenredakteure weitervermittelt, die nie wussten, wer die Texte tatsächlich schrieb? Solche Strategien der Identifikationsverweigerungen waren manchmal einer persönlichen Entscheidung zu verdanken, nicht selten waren sie aber dem Familienkreis geschuldet. Verwandtschafts- und Freundschaftsbande waren Verhandlungsmaterial zum Erarbeiten des intellektuellen Kapitals, nicht zuletzt auf dem Buchmarkt.

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Institutioneller Handlungsspielraum war Schriftsteller wohl selten gegeben, sondern immer noch, in der Zeit um 1800, eine Krux. Selbst wenn die sozial-ökonomischen Bedingungen für die Realisierung eines selbständigen Schriftstellerstatus immer mehr in den Bereich des Möglichen rückten, war es jedoch beinahe unmöglich, vom Ertrag seiner Veröffentlichungen zu leben. [9] Irgendeine Form von Abhängigkeit – sei es Mäzenatentum oder Anstellung – wurde meist notwendig. [10] Das, was ich im Falle der Hochschullehrer "sozial-politische Grundeinstellung" genannt habe, ist für Schriftsteller mit diesen Abhängigkeitsverhältnissen eng verzahnt. So überlebensnotwendig diese Bande tatsächlich sein konnten, waren sie nur zu einem gewissen Grad mit der intellektuellen Tätigkeit als einer sozial- bzw. politikkritischen vereinbar. Insofern war der sozial-politische Handlungsspielraum von Schriftsteller vergleichsweise enger, auch wenn Anonymität und pseudonymes Veröffentlichen zusätzliche Diskursräume öffneten. Die von Schriftsteller entwickelten Strategien, um den (womöglich kritischen) Diskurs hörbar zu machen, entfalteten sich aber nicht institutionell, wie es bei den Hochschullehrern zum Teil der Fall war, sondern primär in den veröffentlichten Texten selbst.

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Die Herausforderung bestand im Rahmen des Forschungsvorhabens darin, das der Untersuchung zugrundeliegende Korpus so zu gestalten, dass all die eben erwähnten relevanten Aspekte berücksichtigt werden konnten. Dies bedeutete das Einschließen von:

  • Akteuren, die in der Öffentlichkeit unterschiedlich stark wahrgenommen wurden, wie sie es allerdings damals wurden und nicht heute (Distanz zum Kanon wahren, Verzerrungseffekte meiden); Berücksichtigung der Spezifität des Status von Frauen (allerdings integrativ, möglichst ohne prinzipiell die Kategorien genderbedingt voneinander abzukoppeln);
  • Textzeugen, die über Entstehungs- und Rezeptionsprozesse Auskunft geben, dies aber auf unterschiedlichen Ebenen der Selbstinszenierung tun, damit textuelle Phänomene mehrfach und damit sicher belegt werden können (das Einzelphänomen gilt in der Regel nicht als aussagekräftig, es kann ein Inszenierungseffekt sein);
  • Verbindungen der unterschiedlichen Sphären (Schriftsteller, Publizisten, Verleger);
  • der Möglichkeit, sowohl dauerhafte Entwicklungen zu verfolgen als auch bei bestimmten historischen Schaltstellen in die Tiefe zu gehen;
  • einer repräsentativen, kritischen Textmasse.

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Sind all diese Voraussetzungen erfüllt, wird es möglich, Transfer- und Intertextualitätsphänomene genauer und in einer neuen Größenordnung und Intensität zu erfassen – aber wie?

Anmerkungen

[1] Das Angebot lehnte er ab; zu den Bedingungen vgl. die letzten Briefe Solgers an Tieck in: Percy Matenko (Hg.): Tieck and Solger. The Complete Correspondence, New York 1934, 518-575.

[2] Die Fachbereiche waren selbst noch nicht fest etabliert; vgl. Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden 1810-2010, Bd. 1: ders. / Charles E. McClelland u.a.: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin 1810-1918, Berlin 2012, 131-207.

[3] Eine Edition von Karl Wilhelm Ludwig Heyses Mitschrift von Solgers Vorlesung zur Mythologie der Griechen von 1819 ist nach wie vor ein Forschungsdesiderat. Die Handschrift befindet sich an der University of Chicago, Josef Regenstein Library, Special Collections Research Center.

[4] Vgl. Anne Baillot: Intellektuelle Öffentlichkeit. Friedrich von Raumers Weg zwischen Politik und Wissenschaft, in: Roland Berbig u.a. (Hg.): Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium, Berlin 2011, 135-146.

[5] Zu den Reaktionen auf die Kirchenunion vgl. Mildred Galland-Szymkowiak: Individuum, Staat und Existenz der Idee. Solgers politische Philosphie, in: Anne Baillot / Mildred Galland-Szymkowiak (Hg.): Grundzüge der Philosophie K. W. F. Solgers, Zürich / Berlin 2014, 225-242.

[6] Vgl. beispielsweise Bernhard Rudolf Abekens scharfe Kritik an seinem Freund Heinrich Voß; zu Zitat und Kontext vgl. Anne Baillot: Shakespeare und die alten Tragiker im Briefwechsel Heinrich Voß' mit Karl Solger und Rudolf Abeken, in: Anne Baillot / Enrica Fantino / Josefine Kitzbichler (Hg.): Voß' Übersetzungssprache. Voraussetzungen, Kontexte, Folgen, Berlin 2015, 93-112, hier: 98f.

[7] Ein Beispiel dafür ist Tiecks Mitwirkung an Solgers Gestaltung seines philosophischen Opus "Erwin", die sich einerseits durch die kenntlichen Markierungen im Druckmanuskript, andererseits durch die Hinweise im Briefwechsel rekonstruieren lässt; vgl. Anne Baillot: Tieck et Solger, un dialogue philosophico-littéraire, in: Sebastian Hüsch (Hg.): Philosophy and literature and the crisis of metaphysics, Würzburg 2011, 273-280.

[8] Allgemein Karin Tebben: Beruf: Schriftstellerin: schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1998 sowie Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik: Epoche – Werke – Wirkung, München 2000. Zum besonderen Fall von Dorothea Tieck vgl. Sophia Zeil: "Unter uns gesagt" – Die Briefe Dorothea Tiecks an den Görlitzer Schriftsteller Friedrich von Uechtritz als erstmals vollständige Edition, in: Görlitzer Magazin 27 (2014), 70-79.

[9] Vgl. dazu Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, München 1987; besonders einleuchtend das Beispiel Goethes ebd., 175-185.

[10] Das Verhältnis von Literaturproduktion und Marktverständnis bzw -verinnerlichung untersucht Selma Jahnke in ihrer Dissertation zu Helmina von Chézy. 

Empfohlene Zitierweise
Anne Baillot, Berliner 'Intellektuelle' um 1800. Eine kontroverse Kategorie und ihre Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/7), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Korpusbildung und Forschungsergebnisse (Datum des letzten Besuchs).