Intellektuellenkommunikation als Forschungsfeld

Das Wirken im öffentlichen Raum

Friedrich Jaeger

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Das erste Merkmal repräsentiert das Wirken der Intellektuellen im öffentlichen Raum. [1] Bereits für Kant konstituiert den Gelehrten bekanntlich der "öffentliche Gebrauch der Vernunft"; ein Gelehrter ist also jemand, der, wie Kant sagt, "öffentlich seine Gedanken äußert". [2]

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Seit dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert beeinflussten Intellektuelle auf vielfältige Weise die Prozesse der Meinungsbildung innerhalb der neuzeitlichen Gesellschaften, [3] indem sie im öffentlichen Austausch der Argumente Grundfragen ihrer Zeit debattierten. Daher lässt sich auch "an ihrer Geschichte […] der Strukturwandel politischer Öffentlichkeit ablesen". [4] Der Begriff der Öffentlichkeit, im Sinne von Habermas [5] verstanden als ein zivilgesellschaftliches Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten, Meinungen und Stellungnahmen, ermöglicht dabei einen heuristisch tragfähigen Zugang zur Struktur intellektueller Kommunikation, zu deren Merkmalen ein vergleichsweise geringes Maß an institutioneller Regulierung, Verfestigung und Organisation zählt.

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Ein wesentliches Moment der öffentlichen Rolle von Intellektuellen bildet die Anwendung von Wissen auf Praxis, wie sie sich etwa in der Tradition des 'politischen Professors', des 'Gelehrtenpolitikers' oder auch in der anglo-amerikanischen Variante des 'Public Intellectual' historisch manifestiert hat. [6] Häufig verband sich dieses Moment mit einer kritischen Distanz zu den politischen Institutionen und sozialen Ordnungen der jeweiligen Gegenwart, worauf Lepsius mit seiner auf die Intellektuellen gemünzten Formel "Kritik als Beruf" bewusst anspielt. [7]

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Die kritische Kompetenz, Phänomene und Sachverhalte auf empirische Richtigkeit sowie Geltungs- und Wahrheitsansprüche hin zu prüfen, wie sie seit der Frühen Neuzeit in der humanistischen Textkritik, in der historisch-hermeneutischen Quellenkritik, in der philologischen Bibelkritik, oder aber in der Kunst- und Literaturkritik zum Ausdruck kam, gewannen seit der Kritik der Aufklärungsintellektuellen an den politischen oder religiösen Autoritäten ihrer Zeit einen ideologiekritischen Akzent, [8] der im Laufe des 19. Jahrhunderts im Rahmen unterschiedlicher Paradigmen realisiert worden ist: sei es als ästhetisch gesteigertes Leiden an einer entzweiten Wirklichkeit im Stile der Romantik; sei es in der Version der frühmarxistischen Entfremdungstheorie; oder sei es schließlich als Propagierung einer 'artistischen' Unzeitgemäßheit im Sinne von Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft". Derartige intellektuelle 'Stile' verkörpern unterschiedliche Applikationen von Wissen auf Praxis. Denn jenseits eines "Fachmenschentums" im Sinne Max Webers erweisen sich die modernen Intellektuellen – als Wissenschaftler, Künstler oder Literaten [9] – auf der Grundlage einer über ihren wissenschaftlichen Status hinausgehenden Reputation als Akteure der öffentlichen Meinungsbildung, die aufgrund einer gesteigerten Sensibilität für aktuelle Problemlagen kritisch zu den Fragen ihrer Zeit Stellung beziehen. Daraus erklärt sich auch ihre polarisierende Wirkung sowie die Institutionalisierung des Streits als Lebenselixier intellektueller Milieus. [10]

Anmerkungen

[1] Hierzu auch Andreas Franzmann: Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. Krise und Räsonnement in der Affäre Dreyfus, Frankfurt am Main 2004; Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006, 227-247. – Zur Geschichte der Öffentlichkeit und ihres Begriffs noch immer wichtig ist Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990 [erstmals Darmstadt 1962]; Peter Uwe Hohendahl u.a. (Hg.): Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart / Weimar 2000; Lucian Hölscher: Öffentlichkeit, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, 413-467.

[2] Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 11: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, 53-61, hier: 56. – Siehe dort auch: "Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht"; ebd., 55.

[3] Lucian Hölscher: Meinung, öffentliche, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel / Stuttgart 1980, 1023-1033; Lucian Hölscher: Die Öffentlichkeit begegnet sich selbst. Zur Struktur öffentlichen Redens im 18. Jahrhundert zwischen Diskurs- und Sozialgeschichte, in: Hans-Wolf Jäger (Hg.): "Öffentlichkeit" im 18. Jahrhundert, Göttingen 1997, 11-31.

[4] Hübinger: Gelehrte (wie Anm. 1), 11. – Speziell zur Geschichte der us-amerikanischen 'public historians' des 20. Jahrhunderts Ian Tyrrell: Historians in Public. The Practice of American History, 1890-1970, Chicago 2005. – Zur Theoriegeschichte zwischen Kant und Marx unter Berücksichtigung der wesentlichen intellektuellen Diskursfelder des späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Thorsten Liesegang: Öffentlichkeit und öffentliche Meinung. Theorien von Kant bis Marx (1780-1850), Würzburg 2004.

[5] Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992, 436.

[6] Aufgrund dieser dezidiert politischen Rolle ist der Intellektuelle für Bering auch "ein forcierter citoyen, auf den keine Demokratie verzichten kann." Dietz Bering: "Intellektueller": Schimpfwort – Diskursbegriff – Grabmal?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010), Ausgabe 40 vom 4.10.2010, 5-12, hier: 12. – Generell hierzu auch Hübinger: Gelehrte (wie Anm. 1); ders. / Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1993. – Für die Intellektuellen des 20. Jahrhunderts auch Gangolf Hübinger: Die politischen Rollen europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, in: ders. / Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, 30-44; Ingrid Gilcher-Holthey: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007; Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2010; Theodore J. Lowi: Public Intellectuals and the Public Interest. Toward a Politics of Political Science as a Calling, in: Political Science and Politics 43 (2010), 675-681. Mit Blick auf die amerikanischen Public Intellectuals des Progressive Movement Friedrich Jaeger: Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2001.

[7] M. Rainer Lepsius: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: ders.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1988, 270-285, hier: 277: "Was sie treiben ist Kritik." – Zu Aktualität und Dimensionen philosophischer Kritik auch Rahel Jaeggi / Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik, Frankfurt am Main 2009; Ralf Konersmann: Kulturkritik, Frankfurt am Main 2008.

[8] Für das vorrevolutionäre Frankreich hierzu bereits Robert Darnton: Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, München 1985; Gudrun Gersmann: Im Schatten der Bastille. Die Welt der Schriftsteller, Buchhändler und Kolporteure am Vorabend der Französischen Revolution, Stuttgart 1993 sowie Kirill Abrosimov: Die Genese des Intellektuellen im Prozess der Kommunikation. Friedrich Melchior Grimms "Correspondence littéraire", Voltaire und die Affäre Calas, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 163-197, der am Beispiel Voltaires und der Kulturzeitschrift "Correspondance littéraire" die "Kommunikationspraxis" der Aufklärungsintellektuellen untersucht (ebd., 164f.) und damit dem hier dargelegten öffentlichkeits- und kommunikationsgeschichtlichen Analysekonzept methodisch nahesteht. – Als ein die Debatte weiterführendes Plädoyer für die "Revitalisierung der Ideologiekritik" im Sinne immanenter Kritik und einer "eigenständigen Art von Normativität" mit transgressivem Charakter – gleichermaßen jenseits eines Moralismus des "bloßen Sollens" und einer reinen Anpassung an das Gegebene gelagert – siehe Rahel Jaeggi: Was ist Ideologiekritik?, in: ders. / Wesche (Hg.): Kritik (wie Anm. 7), 266-295, hier: 266f.; zu ihrem für die Intellektuellengeschichte fruchtbaren Konzept der immanenten Kritik siehe ferner ebd., 286ff.

[9] Um diese soziale Bandbreite der Intellektuellen in den Blick zu bringen, erscheint Hübingers Kategorie des "Gelehrtenintellektuellen" als zu eng; vgl. Hübinger: Gelehrte (wie Anm. 1), 14. Ein Intellektueller ist nicht unbedingt an Gelehrsamkeit gebunden, wohl aber an ein besonderes 'Können', was die Kunst, die Literatur, das Theater, den Film oder den Komplex moderner Massenmedien – wie etwa den Journalismus – mit umgreift (zu letzterem Jörg Requate: Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995). Insgesamt zum sozialen Spektrum intellektueller Existenz auch Wolfgang J. Mommsen: Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830-1933, Frankfurt am Main 2000.

[10] Vgl. Randall Collins: Über die Schärfe in intellektuellen Kontroversen, in: Leviathan 31 (2003), 258-284. – Zur Streitkultur der Gelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts siehe Marian Füssel: Gelehrte Streitkulturen. Zur sozialen Praxis des Gelehrtenstreits im 17. und 18. Jahrhundert, in: Markus Meumann (Hg.): Ordnungen des Wissens – Ordnungen des Streitens. Gelehrte Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts in diskursgeschichtlicher Perspektive, Berlin 2016 [im Druck]; zur deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 auch Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005; Martin Sabrow / Ralph Jessen / Klaus Große Kracht (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003.

Empfohlene Zitierweise
Friedrich Jaeger, Intellektuellenkommunikation als Forschungsfeld (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/1), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Das Wirken im öffentlichen Raum (Datum des letzten Besuchs).