Die Korrespondenz des Friedrich von Gentz mit dem Internuntius Franz Freiherr von Ottenfels-Gschwind in den Jahren 1822-1825

Charakteristika und theoretische Ansätze

Christian Maiwald

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Bevor die Briefe selbst Gegenstand der Analyse sind, erscheint es geboten, einige allgemeine Wesensmerkmale der Korrespondenz zu erläutern. Grundsätzlich scheint es sich um einen genuin privaten Briefwechsel gehandelt zu haben. Denn die Briefe, die zwischen Gentz und Ottenfels ausgetauscht wurden, sind strikt von der eigentlichen diplomatischen Post (Depeschen, Instruktionen und Briefe an den Fürsten Metternich) zu unterscheiden. Eine Art von Arrangement, sich gegenseitig und regelmäßig über Neuigkeiten auszutauschen, dürfte dem Briefwechsel wohl zugrunde gelegen haben, da mit beinahe jeder türkischen Post auch Privatbriefe mitversandt wurden.

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Weiterhin ergibt sich aus einer Lektüre der Gentz'schen Briefe, dass das scheinbare quantitative Ungleichgewicht in der Korrespondenz, welches in der "Sammlung Herterich" zum Ausdruck kommt, wohl eine Folge der Gentz'schen Praxis ist, Briefe nachträglich zu verbrennen. Tatsächlich scheint die Verteilung der Briefe relativ ausgeglichen gewesen zu sein. Da Gentz die für den Historiker dankenswerte Angewohnheit hatte, auf jeweils vorangegangene Briefe seines Korrespondenzpartners Bezug zu nehmen, kann auch das Ausmaß der Ottenfels-Briefe erahnt bzw. teilweise rekonstruiert werden.

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Allerdings muss darauf hingewiesen und konzediert werden, dass die Berichterstattung aus Konstantinopel durch Ottenfels nicht der einzige Informationskanal für Gentz war. Immer wieder erwähnt er in den Briefen auch andere Informationsquellen, so zum Beispiel Berichte aus den Konsulaten Korfu und Zante, ab 1825 in steigendem Maße die Berichte von Anton Prokesch-Osten [1] und schließlich die Depeschen außenpolitischer Akteure anderer Nationen, was auf die außerordentliche Vernetzung der europäischen Diplomatie der Zeit verweist. Die entscheidende Frage nach der Signifikanz der Ottenfels-Briefe für Gentz' Wahrnehmung der orientalischen Politik und Mentalität ist daher schwer zu beantworten.

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Ein ganz entscheidender Aspekt ist zudem, dass es sich bei diesem Briefwechsel um eine 'gesicherte', von möglicher Kontrolle oder Zensur durch die Staatsbehörden befreite Korrespondenz handelte, da Gentz zur Beförderung seiner Briefe an Ottenfels von einem eigenen, von der Staatskanzlei unabhängigen Kommunikationsweg über Hermannstadt Gebrauch machte. Das erweist sich als ein besonderer Glücksfall, da Gentz in diesen Briefen freimütig sprechen und seinen Gedanken freien Lauf lassen konnte, wie er selbst in einem Brief an Ottenfels erwähnt:

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"Sie haben Unrecht, in allen solchen Fällen, wo irgend ein Bedenken obwaltet, mir Briefe oder Pakete durch die Staatskanzley zukommen zu laßen, solche nicht ein für allemal an Matusch in Hermanstadt zu adressiren. Dieser Mann ist sicher und zuverläßig, wie das reinste Gold. Ich stehe nun seit 11 Jahren in immerwährender Verbindung mit ihm; er hat mich kein einziges Mahl compromittirt, er hat keinen einzigen Fehler begangen. Ihm würde ich die gefährlichsten Aufträge anvertrauen; und was aus seiner Hand den Couriers überliefert wird, kömmt jederzeit unmittelbar, und so promt als möglich, in meine Hände, ohne irgend eine fremde Schau zu passiren. Glauben Sie mir – und Sie begreifen es wohl sehr leicht: meine Correspondenz mit Ihnen, – uns beyden gewiß nützlich und angenehm – und wahrlich für das Interesse des Dienstes und des Staates nicht ohne Werth – könnte in der Art, wie sie von meiner Seite geführt wird, durchaus nicht Statt finden, wenn ich dies Communications-Mittel nicht hätte. Ich habe keinen besondern Grund anzunehmen, daß meine Briefe geöfnet werden, glaube vielmehr, nahmentlich wenn sie an Sie gerichtet sind, das Gegentheil. Sobald ich mich aber ganz frey bewegen, und alles sagen soll, was ich auf dem Herzen habe, bedarf ich vollkommner und absoluter Sicherheit; und diese kan ich mir nur auf jenem Wege verschaffen, der mich übrigens im Durchschnitt ungefähr 1000 Gulden Conventions-Münze jährlich kostet, die ich aber mit dem größten Vergnügen dafür hingebe". [2]

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Dementsprechend liegt die besondere Faszination dieses Briefwechsels gerade im freimütigen Gedankenaustausch zweier mit den 'Orientalischen Angelegenheiten' beauftragter Akteure, deren Räsonnements zwangsläufig um die Wahrnehmung 'des Türkischen' kreisten. Die Untersuchung von Fremdwahrnehmungen in den Gentz-Briefen an Ottenfels verspricht daher interessante Aufschlüsse über den mentalen Verständnishorizont eines so bedeutenden europäischen Politikers wie Friedrich von Gentz in den 1820er Jahren.

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Bevor man sich den Gentz'schen Fremdwahrnehmungen zuwendet, erscheint es zudem sinnvoll, zuerst eine Kontrastfolie als Verständnisgrundlage zu entfalten. Die Arbeiten des Historikers Oliver Schulz, die sich vorrangig mit der englischen, französischen und zum Teil auch der russischen Diplomatie im griechischen Unabhängigkeitskrieg befassen, zeigen eindrucksvoll, wie der Politik dieser Kabinette eine 'orientalistische' Sichtweise zugrunde lag. [3]

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'Orientalismus' bezieht sich dabei auf eine vom amerikanischen Literaturwissenschaftler Edward W. Said postulierte These. Als Orientalismus bezeichnet Said eine europäische Denkform des 19. und 20. Jahrhunderts, die auf einer ontologischen und erkenntnistheoretischen Distinktion zwischen 'dem Orient' und 'dem Okzident' basiert. Der europäische Diskurs über den außereuropäischen Raum zeichne sich demnach durch seinen selbstreferentiellen Charakter aus, so dass Zeugnisse dieses orientalistischen Diskurses lediglich Rückschlüsse auf europäische Selbstbilder zuließen. [4] Der Orientalismus als diskursanalytische Denkweise in der Nachfolge Michel Foucaults verknüpft Wissen und Macht und unterstellt "der europäischen Kultur einen allgegenwärtigen Autismus […], eine von imperialer Machtentfaltung getragene Unfähigkeit zum Dialog mit anderen Kulturen". [5] Diese Theorie drückt eine Ansichtsweise aus, die ungeachtet ihrer Verdienste durchaus auch ihre Kritiker fand. [6]

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Dennoch vermag Oliver Schulz in seinen Arbeiten aufzuzeigen, dass der englische, französische und russische Diskurs über das Osmanische Reich in der Zeit des griechischen Unabhängigkeitskrieges einerseits stark vom Philhellenismus geprägt war, der zwischen 'guten Griechen' und 'schlechten Osmanen' unterschied, und sich andererseits durch ein konstruiertes Zivilisationsgefälle zwischen Europa und dem asiatischen Osmanischen Reich auszeichnete. 'Orientalischer Müßiggang', religiöser Fanatismus, Abweichungen von der gängigen, überlegenen diplomatischen Praxis Europas, Barbarei und nicht zuletzt 'orientalische Grausamkeit' sind allesamt Topoi, die Schulz aus verschiedenen diplomatischen, politischen und publizistischen Quellen der Zeit eruiert. [7] Man hat es also mit Fremdwahrnehmungen zu tun, die im Denken und Handeln europäischer Politiker, Diplomaten und Publizisten das typisch-europäische Überlegenheitsgefühl zum Ausdruck brachten.

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Schulz konzentriert seine Betrachtungen der orientalistischen Sichtweise in Europa nicht zu Unrecht auf England, Frankreich und Russland, da diese Mächte der sogenannten 'Triple-Allianz' ab 1827 koordiniert gegen die Hohe Pforte und somit zugunsten der griechischen Aufständischen intervenierten und den Gang der 'Orientalischen Angelegenheiten' der 1820er Jahre dadurch entschieden. Interessant erscheint aber vor dem Hintergrund einer anders gearteten Außenpolitik die Sichtweise der österreichischen außenpolitischen Akteure, deren Politik eher einen Ausgleich zwischen den Konfliktparteien zu erzielen strebte. Tatsächlich wurden der österreichischen Diplomatie und auch Gentz persönlich turkophile Tendenzen unterstellt. [8] Stimmt diese Wertung aber mit den überlieferten Gentz'schen Fremdwahrnehmungen überein?

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Das Programm einer historischen Untersuchung von Differenzwahrnehmungen und Differenzsetzungen hat Jürgen Osterhammel in seiner gelehrten Kulturgeschichte des Asien-Diskurses in der europäischen Aufklärungsliteratur wie folgt beschrieben: "Der Gegenstand solchen Begreifens waren Differenzen. Bemerkenswert an ihnen ist nicht, daß es sie überhaupt gab. Zu sagen, wie es es [sic!] oft geschieht, Asien sei 'das Andere' Europas gewesen, ist eine Trivialität. Worin bestanden aber in der Sicht einzelner Autoren diese Differenzen? Wie wurden sie bewertet? […] 'Fremdheit' ist keine eindeutige und absolute, sondern eine relative und graduell unendlich variierbare Kategorie. In jeder einzelnen Aussage eines Textes aus dem 17. oder 18. Jahrhundert, die Europäisches und Asiatisches in eine Verbindung miteinander bringt, wird eine solche kulturelle Differenz neu vermessen. Die Aufgabe des Historikers besteht darin, dieses Maßnehmen zu rekonstruieren. Wozu? Europa hat sich im 18. und 19. Jahrhundert als Nicht-Asien definiert. Interessant ist nun nicht, daß dies geschah, sondern wie es geschah. Die Zeiten, in denen man sich mit der simplen Denkform der verkehrten Welt zufrieden gab, waren längst vorüber. Wo wurde im konkreten Falle die differentia specifica zwischen Okzident und Orient gesehen? Wurde diese Differenz wertend als Überlegenheit und Unterlegenheit aufgefaßt? War sie überbrückbar, oder wurde sie als natürlich gegeben und unveränderlich betrachtet? Wie versuchte man, des Schreckens vor der Differenz Herr zu werden? Durch Abwehr und Ausgrenzung des Fremden oder durch Versuche, es zu assimilieren, zu inkorporieren, ihm anpassend entgegenzukommen, es durch Kolonisation unter Kontrolle zu bringen und seine Andersartigkeit durch verwestlichende Reform aufzuheben?" [9] Die Fragestellung Osterhammels erweist sich auch im Hinblick auf Gentz und die Untersuchung seiner Fremdwahrnehmungen als hilfreich.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. zu Prokesch-Osten Daniel Bertsch: Anton Prokesch von Osten (1795-1876). Ein Diplomat Österreichs in Athen und an der Hohen Pforte. Beiträge zur Wahrnehmung des Orients im Europa des 19. Jahrhunderts (= Südosteuropäische Arbeiten 123), München 2005.

[2] Gentz an Ottenfels, Wien, 01.06.1824 (bisher ungedruckt); zitiert nach "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/3419.html?l=en <02.10.2015>.

[3] Vgl. Oliver Schulz: 'This clumsy fabric of barbarous power'. Die europäische Außenpolitik und der außereuropäische Raum am Beispiel des Osmanischen Reiches, in: Wolfram Pyta (Hg.): Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg 1853 (= Stuttgarter historische Forschungen 9), Köln u.a. 2009, 273-298; Oliver Schulz: Ein Sieg der zivilisierten Welt? Die Intervention der europäischen Großmächte im griechischen Unabhängigkeitskrieg (1826-1832) (= Geschichte 103), Münster 2011.

[4] Vgl. Edward W. Said: Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt am Main 2009.

[5] Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, 2. Aufl., München 2013, 21.

[6] Saids zahlreiche Kritiker werfen ihm vor, dass seine Grenzziehungen zwischen 'dem Orient' und 'dem Westen' gerade zu einer Zementierung dieser Grenzen führen würden; vgl. Sadiq Jalal al-Azm: Orientalism and Orientalism in Reverse, in: Khamsin 8 (1981), 5-26, ND in: Alexander Lyon Macfie (Hg.): Orientalism. A Reader, New York 2000, 217-238; Osterhammel: Entzauberung (wie Anm. 5), 409-412.

[7] Vgl. Schulz: Außenpolitik (wie Anm. 3), 279-296.

[8] Brief an Ottenfels, Wien, 31.10. / 05.11.1823 (bisher ungedruckt); vgl. "Gentz digital": http://gentz-digital.ub.uni-koeln.de/portal/databases/id/gentzdigital/titles/id/869.html?l=en <02.10.2015>.

[9] Osterhammel: Entzauberung (wie Anm. 5), 28f.

Empfohlene Zitierweise
Christian Maiwald, Die Korrespondenz des Friedrich von Gentz mit dem Internuntius Franz Freiherr von Ottenfels-Gschwind in den Jahren 1822-1825 (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/4), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Charakteristika und theoretische Ansätze (Datum des letzten Besuchs).