'Digitale Intellektuelle': Ego-Dokumente und Selbstzeugnisse in digitalen Datenbanken

Einleitung

Rebecca van Koert

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Tagebücher, Briefe, Autobiographien und alle weiteren Quellen, in denen ein historisches Subjekt uns die Möglichkeit gibt, seine Lebenswelt zu rekonstruieren, haben Hochkonjunktur. Ein erster Auslöser für die Beschäftigung mit solch persönlichen Quellen war in den 1970er und 80er Jahren die Hinwendung zu einer am Alltag des Menschen interessierten "Mikrogeschichte" – als Gegensatz zu den großen Meistererzählungen der traditionellen Geschichtsschreibung –, die sich beispielsweise in den Fragestellungen und methodischen Ansätzen der historischen Anthropologie manifestiert. [1]

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Aus der niederländischen Forschung um Jacques Presser [2] und Rudolf Dekker [3] erstmals von Winfried Schulze [4] übernommen bereichert der Begriff 'Ego-Dokument' seit den 1990er Jahren die Einteilung geschichtlicher Quellen um eine Kategorie, die es ermöglicht, solche Quellen zusammenzufassen. Gleichzeitig löste Schulze mit der Einführung dieses Begriffs auch eine quellenkundliche Debatte über die so betitelte Kategorie aus, die sich vor allem auf den Gebrauch und die Definition des Begriffs an sich konzentriert, aber auch auf die Abgrenzung der Kategorie gegenüber anderen und damit auf die Diskussion über das Ein- oder Ausschließen bestimmter Quellengruppen. [5] In diesem Zusammenhang ist auch der Bezug zwischen Ego-Dokument und Selbstzeugnis zu erläutern, dem sich vor allem Benigna von Krusenstjern, aber auch Sabine Schmolinsky und Kaspar von Greyerz widmen. [6]

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Auf inhaltlicher Ebene soll im Folgenden zudem aufgezeigt werden, welchen konkreten Nutzen die Quellengattung 'Ego-Dokument' beispielsweise für die Intellektuellengeschichte haben kann. Hierzu sind zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des 'Intellektuellen' und die Überprüfung seiner Anwendbarkeit auf die Frühe Neuzeit notwendig. Dass der Typus des Intellektuellen, wie er beispielsweise von Émile Zola seit der Dreyfus-Affäre von 1898 verkörpert wird, nicht ohne Weiteres auf die Frühe Neuzeit übertragbar sein kann, versteht sich von selbst. Erste Versuche, auch für frühere Epochen einen Typus des 'Intellektuellen' zu identifizieren, unternahm bereits Jacques Le Goff 1957. [7] In jüngerer Zeit ist auch die Frühe Neuzeit in den Fokus der Erforschung intellektueller Denk- und Handelsweisen gerückt, so zum Beispiel bei Jutta Held, Luise Schorn-Schütte oder Rainer Bayreuther. [8] Eine Verknüpfung der Intellektuellengeschichte mit der Erforschung von frühneuzeitlichen Ego-Dokumenten hat jedoch bisher nicht stattgefunden.

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Das digitale Zeitalter bietet hierzu neue Möglichkeiten. Zwar ist die Debatte um die Begrifflichkeit von 'Ego-Dokument' und 'Selbstzeugnis' allmählich abgeflaut, das Interesse an den so bezeichneten Quellen ist aber dennoch ungebrochen. Aufgrund der relativ späten Entdeckung ihres Reizes jenseits nostalgischer Erinnerung an Vorfahren oder der Konstruktion familiärer Identitäten fristen viele Ego-Dokumente nach wie vor ein fast vergessenes Dasein im privaten Besitz oder in den Tiefen des einen oder anderen Archivs. In jüngerer Vergangenheit wurden deswegen digitale Datenbanken eingerichtet, um diese Quellen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Zielsetzungen der jeweiligen Projekte sind dabei völlig unterschiedlich, und die technische Umsetzung der Vorhaben reicht von einem bloßen Verzeichnis der verfügbaren Quellen bis hin zur vollständigen und kritischen digitalen Edition. Vier Datenbanken sollen hier im Folgenden stellvertretend kurz vorgestellt werden, um die vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Arbeit mit Ego-Dokumenten aufzuzeigen, auch im Hinblick auf den Wert der Ego-Dokumente für die Erforschung der Intellektuellengeschichte. Die erste ist zugleich auch die älteste Datenbank, nämlich die Schweizerische Selbstzeugnis-Datenbank [9], deren Vorläufer bereits 1999 von Kaspar von Greyerz erstmals vorgestellt wurde. [10] Daneben sollen aber auch drei Projekte der an der FU Berlin ansässigen DFG-Forschergruppe "Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive" [11] untersucht werden.

Anmerkungen

[1] Vgl. Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben (= UTB Geschichte 2254), 2. Aufl., Köln / Weimar / Wien 2001. Für die Literaturwissenschaft ist die Autobiographie schon viel länger ein bedeutender Forschungsgegenstand. Allerdings nähert sie sich der Textgattung von formaler statt inhaltlicher Seite und untersucht die Texte unter narratologischen Gesichtspunkten. Hierzu bietet Gabriele Jancke einen ersten Überblick: Gabriele Jancke: Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 10), Köln / Weimar / Wien 2002.

[2] Vgl. Jacques Presser: Memoires als geschiedbron (1958), in: Maarten Brands / Jan Haak (Hg.): Uit het werk van dr. J. Presser, Amsterdam 1969, 277-282.

[3] Vgl. Rudolf Dekker: Egodocumenten. Een literatuuroverzicht, in: Tijdschrift voor geschiedenis 101 (1988), 161-189; ders.: Ego-Dokumente in den Niederlanden vom 16. bis zum 17. Jahrhundert, in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Beiträge einer Konferenz über "Ego-Dokumente" vom 4.-6. Juni 1992 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, 33-58.

[4] Vgl. Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung "Ego-Dokumente", in: ders. (Hg.): Ego-Dokumente (wie Anm. 3), 11-32.

[5] Eine Übersicht über die verschiedenen Positionen bieten vor allem Andreas Rutz: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002) Nr. 2 [20.12.2002], http://www.zeitenblicke.de/2002/02/rutz/ <24.09.2015> und Volker Depkat: Ego-Dokumente als quellenkundliches Problem, in: Marcus Stumpf (Hg.): Die Biographie in der Stadt- und Regionalgeschichte (= Westfälische Quellen und Archivpublikationen 26; Beiträge zur Geschichte Iserlohns 23), Münster 2011, 21-32.

[6] Vgl. Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 2 (1994), 462-471; Sabine Schmolinsky: Selbstzeugnisse im Mittelalter, in: Klaus Arnold / Sabine Schmolinsky / Urs Martin Zahnd (Hg.): Das dargestellte Ich: Studien zu Selbstzeugnissen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (= Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit 1), Bochum 1999, 19-28; dies.: Selbstzeugnisse finden oder: Zur Überlieferung erinnerter Erfahrung im Mittelalter, in: Rudolf Suntrup / Jan Veenstra (Hg.): Self-fashioning. Personen(selbst)darstellung (= Medieval to Early Modern Culture 3), Bern 2003, 23-52; Kaspar von Greyerz: Spuren eines vormodernen Individualismus in englischen Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Schulze (Hg.): Ego-Dokumente (wie Anm. 3), 131-145; ders.: Einführung, in: ders. / Hans Medick / Patrice Veit (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quelle 1500-1800 (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 9), Köln / Weimar / Wien 2001, 1-12; ders.: Vom Nutzen und Vorteil der Selbstzeugnisforschung in der Frühneuzeithistorie, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs (2004), 29-47; ders. (Hg.): Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive (= Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 68), München 2007.

[7] Die deutsche Übersetzung stammt aus dem Jahr 1986: Jacques Le Goff: Die Intellektuellen im Mittelalter, Stuttgart 1986.

[8] Vgl. Jutta Held (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, München 2002; Luise Schorn-Schütte (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 38), Berlin 2010; Rainer Bayreuther u.a. (Hg.): Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre (= Wolfenbütteler Forschungen 125), Wiesbaden 2011.

[9] Vgl. http://wp.unil.ch/egodocuments/de/ <05.10.2015>.

[10] Vgl. Kaspar von Greyerz: Deutschschweizerische Selbstzeugnisse (1500-1800) als Quellen der Mentalitätsgeschichte. Bericht über ein Forschungsprojekt, in: Arnold / Schmolinsky / Zahnd (Hg.): Das dargestellte Ich (wie Anm. 6), 147-163.

[11] Vgl. http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fg530/ <05.10.2015>.

Empfohlene Zitierweise
Rebecca van Koert, 'Digitale Intellektuelle': Ego-Dokumente und Selbstzeugnisse in digitalen Datenbanken (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/8), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Einleitung (Datum des letzten Besuchs).