Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit

Die anglo-amerikanische Forschung

Hanno Scheerer

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Der von de Tocqueville festgestellte Pragmatismus der amerikanischen Gesellschaft zeigt sich auch in der heutigen anglo-amerikanischen Forschung zu Intellektuellen. Während Definitionsfragen in der europäischen Literatur breit diskutiert werden, beschäftigen sich amerikanische Wissenschaftler oft mit Intellektuellen, ohne den Begriff genauer zu bestimmen. Paradigmatisch für diesen Ansatz steht Russell Jacobys zeitgeschichtliche Studie zum Untergang des Intellektuellen, in der er anmerkt: "I will employ, but not exhaustively define, various categories-bohemia, intellectuals, generations, cultural life. Too many definitions, too much caution, kill thought". [1]

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Eine derartig radikale Ablehnungshaltung gegenüber Definitionen ist natürlich selbst im anglo-amerikanischen Raum selten. Doch insbesondere die in der europäischen Forschung derzeit geführte theoretische Debatte über die retrospektive Anwendbarkeit des Begriffs des Intellektuellen auf die frühe Neuzeit und die "Sattelzeit" findet in den USA kaum Resonanz. [2] Im Sinne der 'intellectual history' stehen häufig die Ideen großer Denker der amerikanischen Revolutionszeit im Vordergrund, doch die Frage, ob jene Denker avant la lettre die soziale Funktion des modernen Intellektuellen erfüllten, spielt kaum eine Rolle. [3] Dementsprechend dünn ist die vergleichende Forschung zwischen Intellektuellen in Europa und den USA zur "Sattelzeit".

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Allgemein steht der Begriff des Intellektuellen - in der anglo-amerikanischen Forschung, meist mit dem Adjektiv 'public' versehen - für den modernen Intellektuellentypus, wie er seit 1898 im Nachgang der Dreyfus-Affäre besteht. [4] In seiner simpelsten Definition beschreibt der anglo-amerikanische Begriff des 'public intellectual' eine Person, welche für eine breite Öffentlichkeit sachkundig über Dinge von öffentlichem Interesse schreibt. [5] Aus dieser knappen Definition gehen bereits zwei Charakteristika hervor, die dem anglo-amerikanischen Intellektuellenbegriff zugrunde liegen: Intellektuelle wollen mit ihrem Schreiben die Öffentlichkeit erreichen, und sie beschäftigen sich mit wesentlichen gesellschaftlichen Problemen. Sie stehen also im Gegensatz zum Gelehrten, der seine Gedanken lediglich für eine wissenschaftliche Gemeinschaft formuliert, und zum wissenschaftlichen Experten, der sich mit Spezialthemen ohne unmittelbare gesellschaftliche Relevanz beschäftigt.

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Der Politikerwissenschaftler Arthur M. Melzer nimmt weitere Abgrenzungen des Begriffs vor und legt somit eine enge Definition des Intellektuellen zugrunde. Neben den oben genannten Unterschieden zum Gelehrten und zum Experten sei der 'public intellectual' auch vom religiösen Propheten zu unterscheiden, denn Intellektuelle beschäftigten sich grundsätzlich mit säkularen Themen. Zudem unterscheide sich der moderne Intellektuelle vom Philosophen der klassischen Antike, da sich der Philosoph vollständig von der Gesellschaft loslöse, während der Intellektuelle zwar häufig ein Außenseiter und Eigenbrötler sei, aber stets das Ziel verfolge, die Gesellschaft zu kommentieren und zu verbessern. Der Intellektuelle zeichne sich demnach durch ein "detached attachment" aus, da er gleichzeitig als Beobachter außerhalb der Gesellschaft stehe, aber doch Teil von ihr sei und sie zu verändern suche. Insofern seien Politiker auch keine Intellektuellen, denn Intellektuelle wären als Querdenker niemals Teil des Establishments, da direkte politische Involvierung ihre Denkfreiheit einschränken würde. In Anbetracht dieser engen Definition versteht Melzer den Intellektuellen als ein dezidiert modernes Phänomen, das erst durch die Entstehung einer Öffentlichkeit und einer modernen Staatlichkeit zutage kommen konnte. [6]

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Diese in der amerikanischen Historiographie weit verbreitete enge Definition des Intellektuellen macht eine Anwendung auf die Denker der amerikanischen Revolutionszeit problematisch. Zweifelsohne war die amerikanische Revolution, wie Merrill D. Peterson es formuliert, sowohl ein intellektuelles als auch ein politisches Ereignis, und die Gründungsväter waren nicht nur die ausführenden Politiker der Revolte gegen Großbritannien, sondern auch ihre intellektuellen Köpfe. [7] Richard Posner versteht die Gründungsväter dann auch als "semipublic intellectuals", die neben ihrem Vollzeitjob als Politiker in Veröffentlichungen die Diskussion gesellschaftlicher Themen suchten. [8] Eine derartige Charakterisierung erscheint in Anbetracht des amerikanischen Politikverständnisses der "Sattelzeit", nach dem Politik nicht als Job, sondern eher als Verpflichtung der Oberschicht wahrgenommen wurde, jedoch anachronistisch. [9] Eine historisch akkuratere Analyse legt Gordon S. Wood vor, der die Gründungsväter weder als Intellektuelle noch als Politiker bezeichnet, da die moderne Unterscheidung zwischen beiden Typen zur amerikanischen Revolutionszeit noch nicht bestand. "They lived mutually in the world of ideas and the world of politics, and shared equally in both in a happy combination that fills us with envy and wonder", [10] führt Wood aus. Ergänzend fügt er hinzu, dass diese Kombination einzigartig in der Geschichte der Vereinigten Staaten gewesen sei. Tatsächlich ließe sich argumentieren, dass die Verschmelzung von politischer Macht und Intellektualität nicht nur einzigartig in der Geschichte der USA, sondern in der gesamten westlichen Welt war. [11]

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Wie im Folgenden anhand von Thomas Jefferson gezeigt wird, war diese einzigartige Situation für die amerikanischen Politiker-Intellektuellen der Zeit extrem problembehaftet und alles andere als "happy". Die Schwierigkeit für die Politiker-Intellektuellen lag in ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung begründet. Aufgewachsen und politisch geschult im kolonialen Amerika, erlebte (und forcierte) diese Generation einen enormen gesellschaftlichen und politischen Wandel, im Zuge dessen eine Öffentlichkeit im modernen Sinne entstand - eine Öffentlichkeit, die nicht nur interessiertes Publikum, sondern auch potenzielle Wähler darstellte, und die von Printmedien mit Informationen und Meinungen versorgt wurde. Thomas Jefferson hatte ein ambivalentes Verhältnis zu dieser modernen Öffentlichkeit. Er entwickelte eine spezifische Vorstellung über die mögliche Einflussnahme auf die öffentliche Meinung, die bereits Anzeichen der späteren Interpretation der amerikanischen Gesellschaft von de Tocqueville beinhaltete. So wurde Jefferson zu einem spezifischen Typus des Intellektuellen, der so nur zur "Sattelzeit" in Nordamerika auftrat.

Anmerkungen

[1] Russell Jacoby: The Last Intellectuals. American Culture in the Age of Academe, New York 1987, xii.

[2] Siehe zu dieser Debatte den Beitrag von Friedrich Jaeger.

[3] Siehe hierzu Einträge in verschiedenen Enzyklopädien: Eric Foner / John A. Garraty (Hg.): The Reader's Companion to American History, Boston 1991, 592; Gary B. Nash (Hg.): Encyclopedia of American History, Bd. 2, New York 2010, 330.

[4] Siehe als Einführung in die Debatte zu dem Begriff u.a. Helen Small (Hg.): The Public Intellectual, Oxford 2002; Arthur M. Melzer / Jerry Weinberger / M. Richard Zinman (Hg.): The Public Intellectual. Between Philosophy and Politics, Lanham / Maryland 2003.

[5] Vgl. Deborah Rhode: In Pursuit of Knowledge. Scholars, Status, and Academic Culture, Stanford 2006, 113.

[6] Vgl. Arthur M. Melzer: What Is An Intellectual?, in: ders. / Weinberger / Zinman (Hg.): The Public Intellectual (wie Anm. 4), 3-14.

[7] Vgl. Merrill D. Peterson: Thomas Jefferson and the New Nation. A Biography, London 1970, 45.

[8] Vgl. Richard A. Posner: Public Intellectuals. A Study of Decline, Cambridge / Massachusetts 2003, 24f.

[9] Zum Punkt der Politik als Verpflichtung der Oberschicht siehe Gordon S. Wood: The Founding Fathers and the Creation of Public Opinion, in: Melzer / Weinberger / Zinman (Hg.): The Public Intellectual (wie Anm. 4), 67-90, hier: 69.

[10] Wood: Founding Fathers (wie Anm. 9), 68.

[11] Hauke Brunkhorst argumentiert demgegenüber, dass große Revolutionen allgemein zu einer Vermischung der "Rollen von Intellektuellen und Machthabern zur Ununterscheidbarkeit" geführt haben. Dieses Argument ist zwar nicht von der Hand zu weisen, doch nur in den USA konnten die revolutionären Intellektuellen ihre Macht langfristig halten. Hauke Brunkhorst: Die Macht der Intellektuellen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" 60 (2010), Ausgabe 40 / 2010 vom 4.10.2010, 32-37, hier: 32.

Empfohlene Zitierweise
Hanno Scheerer, Thomas Jefferson als Virtuose der Öffentlichkeit? Politiker-Intellektuelle in Nordamerika zur Revolutionszeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/5), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Die anglo-amerikanische Forschung (Datum des letzten Besuchs).