Berliner 'Intellektuelle' um 1800. Eine kontroverse Kategorie und ihre Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter

Der Netzwerkgedanke

Anne Baillot

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Bewusst wurde bei der Antragstellung vermieden, den Netzwerkgedanken in den Titel des Projektes aufzunehmen. Die Unterdrückung dieser Begrifflichkeit hatte zum Ziel, nicht die Erwartung zu wecken, dass mit sozialhistorischen Methoden gearbeitet werden sollte. Die Methode war und ist paläographisch, ideengeschichtlich und literaturgenetisch. Die Einleitung zum ersten Band der Bücherreihe, welche die Ergebnisse der Forschungsgruppe darstellt, [1] zeugt von den Schwierigkeiten, die mit der Operationalisierung des Netzwerkbegriffs in einem solchen methodischen Kontext zusammenhängen. Die methodische Prägung dieses 2011 erschienen Bandes zeigt, wie sehr die Social Network Analysis in den letzten Jahren das Netzwerkverständnis für historisch arbeitende Wissenschaftler geprägt, ja geändert hat.

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Netzwerkvisualisierungen sind in eine ganze Reihe von historischen Bereichen eingedrungen, oft mit dem (nicht selten unberechtigten) Anspruch, eine Netzwerkanalyse zu bieten. Die Frage, wozu eine Netzwerkvisualisierung wirklich gut ist, ist nicht immer einfach zu beantworten. [2] Was sich allerdings bei der Arbeit mit dem Netzwerkbegriff der Social Network Analysis als ertragreich erweist, ist die Art und Weise, wie er uns, die wir keine Soziologen sind, zwingt, eine genaue Definition von Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen. Will man die Verhältnisse zwischen Texten, Autoren und Lesern in eine Netzwerkvisualisierung bringen, muss man im Vorfeld schon definieren, welche Arten von Beziehungen man betrachten möchte und welche Ausgestaltung dieser vorab definierten Beziehungen für die Forschungsfrage ertragreich sein kann. Welche Netzwerkvisualisierung kann einen größeren Erkenntnismehrwert bringen als die Fallstudie? Das ist dabei die zentrale Frage.

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Während der Mechanismus der Verallgemeinerung einer Fallstudie auf das nächstgrößere, relevante Niveau in historischen Untersuchungen ein routiniertes Verfahren ist, werden die Skalenwechsel, die mit einer Netzwerkvisualisierung zusammenhängen, noch nicht ganz beherrscht bzw. sind noch nicht beherrschbar. Damit sie in einem Netzwerk erfasst werden (im Sinne des SNA), müssen Beziehungen vereinfacht werden, meist in einem Triple-Schema. [3] Doch diese Vereinfachung erlaubt letzten Endes auch das visuelle Erfassen und möglicherweise Auseinanderdifferenzieren von komplexen Verhältnissen auf einer großen (oder zumindest größeren) Skala. Die Zoom-Effekte zwischen Fein- und Großanalyse, zwischen Vereinfachung und Komplexität, sind im Falle von historischen Daten umso komplizierter als diese in der Regel unvollständig überliefert sind. Damit ist die Aussagekraft eines bestimmten Datensatzes immer vorzudefinieren und möglichst durch Einbauen von Surrogaten zu minimieren – Datenplatzhalter, die Netzwerkelemente abbilden, die real nicht erhalten sind, aber von denen man voraussetzen kann, dass es sie gegeben hat.

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Netzwerkvisualisierungen sind aber nur eine der vielen Formen, die die (digitale) Auswertung digitaler Daten annehmen kann. Andere Auswertungsformen sind auch denkbar, beispielsweise im Fall dieses Korpus eine algorithmische Herangehensweise an die Überarbeitungsphänomene (Streichungen, Überschreibungen) mit dem Ziel, redaktionelle Methoden in Clustern zusammenzuführen und damit systematischer zu erfassen. [4]

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Unabhängig von der gewählten Auswertungsmethode deckt die digitale Aufbereitung solcher Korpora wie derjenigen, die im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens "Berliner Intellektuelle 1800-1830" stehen, drei Arbeitsschritte ab: die Quellenerschließung (Auswahl, Transkription, Metadaten), die Quellenaufbereitung (Annotation, Entitätenerfassung) und die Quelleninterpretation. Dass die Anlage des Korpus eine Interpretation in dem uns interessierenden Sinne unterstützt, schließt nicht aus, dass ein anderes Forschungsprojekt zwar von unserer Quellenerschließung ausgeht, dabei aber eine neue Aufbereitung und Interpretation anbietet. Der wissenschaftliche Mehrwert von deutlich strukturierten, offenen Daten ist prinzipiell immens.

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Anders herum gilt eine solche Ressource nicht an und für sich als Referenz. Ihr Eigenpotenzial rührt vielmehr von ihrer Anlage als Drehscheibe vorhandener Informationen her, die bereits online vorliegen. So können andere Ressourcen per Link im Sinne eines Zitats (und nicht einer inhaltlichen Aneignung) herangezogen werden oder es erfolgt eine Ansammlung von Informationen über standardisierte Verfahren wie der Gemeinsamen Normdatei. [5]

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In ihrer Förderzeit von fünf Jahren hat die Forschungsgruppe im Bereich der traditionellen (analogen) Fallstudie und Interpretation [6] sowie im Bereich der digitalen Quellenerschließung und -aufbereitung Pionierarbeit geleistet. Es bleibt zu hoffen, dass die noch nicht abgeschlossene, dennoch gut vorankommende Entwicklung einer digital angelegten Interpretation im Sinne der Antragstellung diesen Erkenntnismehrwert noch steigern kann. In den Bereichen der Struktur intellektueller Netzwerke, der Bücherzirkulation, der individuellen versus gemeinschaftlichen Arbeitsprozesse sind auf jeden Fall innovative Erkenntnisse zu erwarten.

Anmerkungen

[1] Vgl. Anne Baillot (Hg.): Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800, Berlin 2011.

[2] Vgl. dazu meine zwei Arbeitspapiere "Visualisation des réseaux: apports, défis et enjeux du travail sur les données historiques" (https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01130425 <20.10.2015>) und "Reconstruire ce qui manque – ou le déconstruire? Approches numériques des sources historiques" (https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01133507 <20.10.2015>) aus dem März 2015.

[3] Zur Methodik vgl. die zum Standard avancierte Blogpostserie "Demystifying Networks" von Scott Weingart (http://www.scottbot.net/HIAL/?p=6279 <20.10.2015>); Triples werden im ersten Beitrag der Serie dargestellt.

[4] Eine solche Untersuchung entsteht im Moment im Rahmen einer Kollaboration mit dem Institut für Maschinelles Lernen der Technischen Universität zu Berlin (Masterarbeit von David Lassner).

[5] Grundsätzliches zu Ressourcenverbindung bei Anne Baillot / Markus Schnöpf: Von wissenschaftlichen Editionen als interoperablen Projekten. Lesen und interpretieren in der digitalen Welt, in: Wolfgang Schmale (Hg.): Digital Humanities. Praktiken der Digitalisierung, der Dissemination und der Selbstreflexivität, Stuttgart 2015, 139-156; Autorenversion konsultierbar unter: https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01140930 <20.10.2015>.

[6] Die von mir geleitete Buchreihe "Berliner Intellektuelle um 1800" im Berliner Wissenschaftsverlag zählt derzeit vier Titel: Baillot: Netzwerke des Wissens (wie Anm. 1); Anna Busch / Nana Hengelhaupt / Alix Winter (Hg.): Französisch-deutsche Kulturräume um 1800. Bildungsnetzwerke – Vermittlerpersönlichkeiten – Wissenstransfer, Berlin 2012; Christiane Hackel / Sabine Seifert (Hg.): August Boeckh. Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik, Berlin 2013; Selma Jahnke / Sylvie Le Moël (Hg.): Briefe um 1800. Zur Medialität von Generation, Berlin 2015. Die Dissertationen von Sabine Seifert und Selma Jahnke erscheinen 2017 dort.

Empfohlene Zitierweise
Anne Baillot, Berliner 'Intellektuelle' um 1800. Eine kontroverse Kategorie und ihre Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002/7), aus: Gudrun Gersmann, Friedrich Jaeger, Michael Rohrschneider (Hg.), Virtuosen der Öffentlichkeit? Friedrich von Gentz (1764-1832) im globalen intellektuellen Kontext seiner Zeit (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00002), in: mapublishing, 2016, Seitentitel: Der Netzwerkgedanke (Datum des letzten Besuchs).